LINDNER/SCHNEIDER-Gastbeitrag für „Die Welt“ (16.02.2011)
Berlin. FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER und DR. ULRICH SCHNEIDER, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes
schrieben für „Die Welt“ (heutige Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Entlasst die Schulen in die Freiheit
Wer als Mutter oder Vater zum ersten Mal einen Elternabend an einer öffentlichen Schule besucht, macht zu oft drei Erfahrungen. Erstens: Man muss sich in einen Kinderstuhl zwängen, um im weiteren Verlauf des Abends von unten her zum Lehrer hinaufzublicken. Zweitens: Zu fast jeder Frage, die wirklich bedeutsam und diskussionswürdig ist, kommt früher oder später der Hinweis, das hänge mit einer Vorgabe der Verwaltung, des Ministeriums, des Senats oder von wem auch immer zusammen. Jedenfalls könne man darauf leider keinen Einfluss nehmen. Drittens: Nach relativ kurzer Zeit stellt sich die Erkenntnis ein, dass im Wesentlichen alles beim Alten geblieben ist, seit man selbst die Schule verlassen hat ? trotz der Durchdringung unseres Alltags mit digitalen Medien, trotz neuer Biographien in veränderten Arbeitsmärkten und trotz Hochgeschwindigkeitsglobalisierung. Der Verdacht drängt sich auf: So richtig ist die Gegenwart hier noch nicht angekommen. Und da sitzen die Väter und Mütter n un, Handwerker, Ärztinnen, Ingenieure, Kaufleute, Künstlerinnen oder Polizisten, und stellen gemeinsam fest: Es lässt sich nur wenig bewegen. Und mit kritischen Nachfragen stört man anscheinend ohnehin nur. Guter Rat aus dem Leben ist vielleicht gar nicht so gefragt.
Wie lange können wir es uns noch leisten, das gesellschaftliche Potenzial, das da auf Elternabenden zusammenkommt, frustriert wieder nach Hause zu schicken? Wie lange wollen wir es uns noch erlauben, das Engagement und den Gestaltungswillen von Lehrern, Eltern und Schülern einem staatsorientiertem Bildungsdenken, zentralistischen Bürokratien und dem politischen Wettbewerb von 16 Gesetzgebern zu opfern? Bildung ist eine der sozialen Fragen der Gegenwart. Praktische Lebenstüchtigkeit im Alltag, beruflich verwertbare Qualifikation und kultureller Horizont entscheiden heute darüber, ob und wie der Einzelne die Chancen unserer Gesellschaft tatsächlich für sich nutzen kann. Für Ralf Dahrendorf war Bildung als Bürgerrecht der „Fußboden“ der Gesellschaft, auf dem alle stehen. Umgekehrt gilt: Fehlende Bildung schränkt ein, verstellt Chancen, grenzt aus, führt ins Abseits. Das integrative und leistungsfähige Bildungssystem schafft dagegen eine integrative und leistungsfähige Gesellscha ft. Das ist unsere Vision.
Von diesem Ideal trennt uns noch zu viel: In kaum einem anderen europäischen Land hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Es gelingt zu selten, soziale Barrieren zu durchbrechen und neue Lebenschancen zu eröffnen. Den Bedürfnissen von benachteiligten und hochbegabten Kinder und Jugendliche wird gleichermaßen nicht entsprochen. Auf das Leben in einer veränderten Zukunft bereiten Schulen nicht vor ? zumindest nicht systematisch. Wer es sich leisten kann, flieht immer öfter aus dem öffentlichen Schulsystem und sucht sein Heil auf teuren Privatschulen.
Politisch folgt derweil ein Bildungsgipfel dem nächsten. Es werden ideologische Schlachten geschlagen – um Ganztagsschulen, Hauptschulen, Gymnasien oder Gesamtschulen. Wir werden jedoch keinen Schritt weiterkommen, wenn wir uns nicht endlich von dem Kardinalirrtum lösen, Schulen könnten von oben nach unten staatlich verwaltet werden. Innovation und Individualität lassen sich nicht aus Amtsstuben heraus verordnen. Nur wenn es uns gelingt, ein pragmatisches System zu schaffen, in dem unsere Schulen tatsächlich von Lehrern, Eltern und Schülern getragen werden, wird es uns gelingen, Kreativität und Dynamik dieser Gesellschaft in unseren Schulen zur Entfaltung zu bringen.
Die Bürgergesellschaft braucht die Bürgerschule. In ihnen regeln Lehrern, Eltern und Schülern ihre Angelegenheiten weitestgehend selbst. Von Personalentscheidungen über das pädagogische Profil bis hin zur Budgetverwendung. Die künstliche Trennung von inneren (Personal) und äußeren (Ausstattung) Schulangelegenheiten, für die jeweils Länder und Kommunen separat verantwortlich sind, überwindet sie. Die Stärkung der Schulautonomie erlaubt die Schaffung lebendiger Netzwerke in Gemeinden und Stadtteilen, getragen von Vereinen, Stiftungen und anderen gemeinnützigen Trägern sowie den Menschen, die dort leben. Und geht es um Schulen, die offen sind für alle Kinder ? ob arm, ob reich, ob hochbegabt oder mit Handicap.
Das Modell der Bürgerschule entlässt den Staat nicht aus seiner Verantwortung, doch er rückt in eine neue Rolle: Staatliche Bildungspolitik wird Ordnungspolitik für eine freiheitliche Schullandschaft. Die Länder geben Rahmenziele vor und wachen über deren Einhaltung. Gut wäre es, wenn die Länder dabei durch eine wirksamere Koordination neue Gemeinsamkeiten bei den Standards und Strukturvorgaben finden könnten. Der Staat hat von den Schulen Qualität einzufordern, eine Transparenz der Ergebnisse herzustellen und für ihre Finanzierung zu sorgen. Dabei garantiert er den fairen Wettbewerb zwischen öffentlichen und freien Schulen. Das Budget für die Schulen darf sich nicht an der Frage staatlicher oder freier Trägerschaft orientieren, sondern in erster Linie daran, ob dort zum Wohle der Kinder gut gearbeitet wird ? und wie groß die Nachfrage nach einer Schule ist. Erst so entsteht der notwendige Qualitätswettbewerb zwischen den Schulen. Und so lässt sich vor Ort in der Praxis der b ildungspolitische Konsens erzielen, der in den ideologisch hoch gerüsteten Debatten der Politik nicht gelingt.
Wenn es um die Zukunft unserer Schulen geht, darf also nicht länger am grünen Tisch über Strukturen, Lehrpläne, ganztägige Betreuung und individuelle Förderung gesprochen werden. Es ist die Frage nach dem System selbst, der wir uns endlich stellen müssen: Durch Bürgerschulen machen wir unsere Schullandschaft flexibel und anpassungsfähig, damit sie Vielfalt und Offenheit produziert. Nur wenn wir auf die Weisheit und Verantwortung der vielen bauen, werden wir die Antworten auf immer neue pädagogische und bildungspolitische Herausforderungen einer dynamischen Gesellschaft finden. Internationale Studien bestätigen längst, dass die Leistungen von Schülern besser ausfallen, je autonomer ihre Schule ist ? unabhängig von der Schulstruktur übrigens. Der Blick in die Niederlande oder nach Schweden lohnt. Machen wir es diesen Gesellschaften nach: Entlassen wir unsere Schulen in die Freiheit, um sie zurück in die Gesellschaft zu holen.
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