KOCH-MEHRIN-Interview für die „Augsburger Allgemeine“
Brüssel. Die Vorsitzende der FDP im Europäischen Parlament und Vize-Präsidentin des Europäischen Parlaments, DR. SILVANA KOCH-MEHRIN, gab der „Augsburger Allgemeinen“ (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte DETLEF DREWES:
Frage: Was muss die künftige Kommission Barroso II inhaltlich in den nächsten fünf Jahren leisten?
KOCH-MEHRIN: Vorrangig ist zweifellos eine neue Aufsichtsstruktur für den Finanzmarkt. Die gegenwärtige Krise ist nicht bewältigt und notwendige Reformen stehen nach wie vor aus. Das hat Barroso zugesagt und ich will davon ausgehen, dass er sein Versprechen, das er dem Parlament vor seiner eigenen Wahl gegeben hat, auch einhält. Außerdem muss die neue Kommission die Erhaltung und den Ausbau der Bürgerrechte in den Mittelpunkt stellen. Der Kommissionspräsident denkt offenbar über einen eigenen Kommissar für diesen Bereich nach. Das wäre ein wichtiges Signal.
Frage: In den letzten Jahren hat die Barroso-Mannschaft viel Wert auf Eingriffe in den Lebensalltag gelegt: Nichtraucherschutz, Kampf gegen Alkohol und Fettleibigkeit. Soll das so weitergehen?
KOCH-MEHRIN: Das muss aufhören. Es gibt wichtige große Themen, wo Europa sein Gewicht einbringen muss. Dieses Hineinregulieren in den Alltag, die Versuche, den Lebensstil der Menschen zu diktieren, darf nicht weitergehen.
Frage: Sie sind Vizepräsidentin des Europäischen Parlamentes, das nun an Gewicht gewinnt. Wie wird die künftige Zusammenarbeit mit der oft als allmächtig empfundenen Kommission aussehen?
KOCH-MEHRIN: Das Parlament wird selbstbewusster auftreten. Wir Abgeordnete haben Wahlkampf gemacht und wissen deshalb, was die Bürger wollen und brauchen. Bisher wurden wir immer für EU-Politik mitverantwortlich gemacht, auch wenn wir zu oft nicht mitentscheiden konnten. Das wird nun anders.
Frage: Sind Sie mit den bisherigen Kandidaten, die für die Kommission benannt wurden, zufrieden?
KOCH-MEHRIN: Ich bin ernüchtert. Der eine oder andere ist sicher eine sehr gute Wahl wie beispielsweise die schwedische Europaministerin Malmström. Auch der deutsche Kandidat Günther Oettinger geht in Ordnung. Baden-Württemberg ist schließlich eine gute Visitenkarte für Brüssel. Ich kritisiere aber das Verfahren. Da werden Kandidaten aus rein innenpolitischen Erwägungen heraus in die Kommission geschickt. Das Entsorgen von Politikern auf der europäischen Ebene muss aufhören.
Frage: Wie soll das gehen?
KOCH-MEHRIN: Wenn es nach dem Lissabonner Vertrag irgendwann ein neues Dokument geben wird, muss der Kommissionspräsident die Möglichkeit erhalten, sich aus mehreren Vorschlägen eines Mitgliedslandes einen geeigneten Bewerber auszuwählen.
Frage: Es gibt Kritik am Frauenanteil der neuen Kommission.
KOCH-MEHRIN: Mit Recht. Dass jedes EU-Land einen Kommissar stellt, ist eine Quote, die regionale Ausgewogenheit gewähren soll. für die Mehrheit der EU-Bevölkerung, die Frauen, sollte das erst recht gelten.
Frage: Könnte Deutschland mit dem Ressort Industriepolitik plus Forschung oder Wettbewerb plus Energie zufrieden sein?
KOCH-MEHRIN: Die Kanzlerin sollte darauf bestehen, dass Günther Oettinger ein aufgewertetes Industrieressort erhält. Das würde dem Gewicht Deutschlands entsprechen..
Frage: Sollte Oettinger als Vertreter Deutschlands in der Kommission auch einer der Vizepräsidenten sein?
KOCH-MEHRIN: Das wäre sinnvoll und gut. Auch wenn diese zusätzliche Funktion sicherlich nicht die Bedeutung im Arbeitsalltag hat, wie man vermuten würde.