Das ADHS-Training orientiert sich kindgerecht am klassischen Box-Training. „Es geht nicht um technisch sauberes Boxen. Die Kinder sollen sich auspowern!“
Die kleine Hand des Vierjährigen verschwindet in der großen Pranke von Reginald Schulze. Der 1,86 groß und rund 90 Kilogramm schwere Mann, ist nicht zimperlich beim Handshake. „Das spüren die Jungs, und das sollen sie auch.“ Das Händeschütteln zur Begrüßung und Verabschiedung ist obligatorisch beim Box-Training für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), das der Kampf-Sport-Club im südhessischen Bensheim seit einigen Monaten anbietet.
Der Handschlag ist quasi das erste und letzte Element jeder Trainingseinheit im KSC-Gym. Der feste und sichere Händedruck verdeutlicht körperliche Überlegenheit, steht aber vor allem für eine starke Persönlichkeit und zieht bei jeder Begegnung aufs Neue klare Grenzen. „Die Kinder müssen schon dadurch merken, dass ihr Gegenüber sein Ding konsequent durchzieht“, unterstreicht Schulze die Bedeutung des Rituals. Ist die Zeremonie abgeschlossen, geht es weniger förmlich zu. „Nimmst du mich hoch“, fragt der Vierjährige, nachdem seine Hand sich aus der Umklammerung des KSC-Vorsitzenden gelöst hat. Schulze (63) – graue, kurze Haare, grauer Vollbart, grauer Kapuzenpulli, tiefe Stimme – lächelt sanft. „Das lässt sich einrichten.“ Und schon wird der Kleine durch die Luft gewirbelt und landet auf den breiten Schultern des Box-Trainers.
Neben der leistungsorientierten und breitensportlichen Ausrichtung hat der KSC Bensheim, der Box-Club wurde 1999 gegründet, vor mehr als einem Jahr die Sparte Gesundheitssport in sein Programm aufgenommen. Seit Anfang 2016 hat der KSC das Therapeutische Boxen im Portfolio. Dieses Modell, das vor gut zwei Jahrzehnten an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf entwickelt wurde, ist als begleitende Therapieform bei verschiedenen Krankheitsbildern allgemein anerkannt. Das Training kann bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder Burnout zur Anwendung kommen.
Für Reginald Schulze, der mehrere Fortbildungen zu diesem Thema absolviert hat und lizenzierter Trainer für Thera-Boxen ist, war diese neue Methodik das Startsignal, intensiver über die Möglichkeiten nachzudenken, das Box-Training als Teil der Behandlung bei weiteren psychiatrischen Erkrankungen einzusetzen. Gemeinsam mit Nicole Maurer, einer ausgebildeten Physiotherapeutin und KSC-Thera-Box-Trainerin, entwarf der erfahrene Coach in etlichen Monaten einen speziellen Trainingsplan für ADHS-Kinder. Dieses Konzept, das im engen Austausch mit Fachleuten ständig ergänzt wird, hat sich der KSC patentieren lassen. „Das ist unser Baby“, betont Schulze stolz. „Wir sind bundesweit der einzige Verein, der so etwas anbietet.“ Das „KSC-Baby“ hat Interesse bei anderen Vereinen aus der Umgebung geweckt. Erste Ausbildungs-Lehrgänge für Interesierte die sich zum Box Coach Thera Boxen ADHS lassen wollten wurden vom Bensheimer Boxclub bereits durchgeführt. „Das wird noch zunehmen“, ist Schulze zuversichtlich. Wir möchten unser Baby das Thera Boxen ADHS in ganz Deitschland puplik machen.
Das ADHS-Training orientiert sich kindgerecht am klassischen Box-Training. „Die Kinder sollen sich auspowern, es geht nicht darum technisch sauberes Boxen zu erlernen“, fasst Schulze die Zielrichtung kurz zusammen. Die Übungseinheiten werden in Kleingruppen durchgeführt. Die sechs Burschen, derzeit nehmen nur Jungs am Training teil, im Alter von vier bis zehn Jahren werden von zwei Trainern angeleitet. Das ermöglicht eine effektive individuelle Betreuung. Der Schwerpunkt liegt auf der Schulung der motorischen und kognitiven Fähigkeiten in spielerischer Form. Ein Beispiel: Die Jungs müssen mit ihren Boxhandschuhen den von einem dicken Schutzpanzer eingehüllten Bauch des Trainers bearbeiten, dabei die vorgegeben Anzahl ihrer Schläge laut mitzählen, anschließend eine Runde durch die 500 Quadratmeter große, mit modernen Equipment ausgestatte Trainingshalle rennen und sich wieder in die Reihe einordnen. Eine Übung, die Bewegung (Schlagen) mit einer Konzentrationsleistung (Zählen) verbindet sowie die Einhaltung von Regeln beinhaltet. Die Einheiten sollen Spaß machen, den jungen Sportlern Erfolgserlebnisse bescheren und damit zur Steigerung des Selbstwertgefühl beitragen.
Während der Trainingsarbeit sind die Kinder und die Trainer alleine im Gym. Die Eltern warten draußen vor der Halle. „Ich kann das Box-Training nur empfehlen“, erzählt eine Frau, deren Sohn seit knapp zwei Monaten regelmäßig dabei ist. Ob der Fünfjährige tatsächlich von ADHS betroffen ist, ist noch nicht eindeutig diagnostiziert. Weitere Tests in nächster Zeit sollen darüber endgültig Aufschluss geben. Aggressives Verhalten, das häufig in Handgreiflichkeiten mündet, treten bei dem Jungen im Umgang mit Gleichaltrigen auf. Im Kontakt mit Erwachsenen testet er ständig seine Grenzen aus. „Wenn der Körper ruht. ist der Geist aktiv. Wenn der Geist ruht, ist der Körper aktiv“, schildert die Mutter die Unrast ihres Sprösslings. „Selten ruht mein Sohn ganz.“ Momente der inneren Ruhe findet das Kind nach dem fordernden Box-Training. „Danach ist er ausgeglichen.“ Es sind Stunden der Erholung – für Kind und Mutter. Andere Sportarten haben diese Wirkung nicht erzielt. „Wir haben viel ausprobiert, das Box-Training ist ideal.“ Kinderarzt und Ergotherapeut unterstützen das Boxen. „Die finden das klasse“, berichtet die Frau.
Bis die Jungs sich an die Abläufe gewöhnt haben, dauert es einige Übungsstunden. Reginald Schulze ist emphatisch, auf ausufernde Dispute mit seinen Schützlingen, lässt er sich dennoch nicht ein. „Es wird nicht lange diskutiert, es wird gemacht“, lautet sein Credo. Die Atmosphäre im Training ist locker. Es geht spaßig zu, es wird gelacht, die Anweisungen der Trainer werden zügig umgesetzt. Fangspiele sind besonders beliebt, wie eine Umfrage belegt. „Fangen mit den fünf Kniebeugen dazwischen“, wird von einem der Kids favorisiert. „Das ist das Beste“, stimmt ein anderer Junge zu. Ein Dritter findet einfach „alles“ gut. Nach jedem Übungsblock wird eine Trinkpause eingelegt. Zeit für die jungen Sportler, sich körperlich zu erholen und neue Konzentration aufzubauen. „Diese Breaks sind wichtig, damit die Jungs sich neu sortieren können“, erläutert Schulze.
Ziel ist es die Kinder aus der ADHS-Thera-Gruppe behutsam in das reguläre Training der KSC-Bambini zu integrieren. Dadurch steigert sich der Umfang von einen Trainingstag pro Woche mit Intensivbetreuung (Schulze: „Mehr lässt sich mit unserm Trainerstab derzeit nicht leisten.“) auf drei wöchentliche Einheiten bei den Bambini-Boxern. Erste Integrationen sind auf diesem Weg bereits erfolgreich abgeschlossen worden.
Nach 60 Minuten ist das Training an diesem Nachmittag. Im Eingangsbereich versammelt sich die komplette Crew zur Abschiedsparade. „Und kommst du nächste Wochen wieder?“, fragt Schulze einen seiner Zöglinge, nachdem alle Hände geschüttelt sind und wuschelt ihm durch das lockige Haar. „Ja klar“, antwortet der Kleine und verlässt die Halle an der Hand seiner Mutter mit einem breiten Strahlen im Gesicht.
Der KSC Bensheim e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, eingetragen beim Amtsgericht Darmstadt (Vereinsregister Nr.82703) und verfolgt keine kommerziellen Interessen. Wir sind Mitglied im Landessportbund Hessen und im Hessischen Boxverband der Dachorganisation für Olympisches Boxen in Hessen.
Unsere Trainer sind alle im Besitz einer gültigen Trainer Lizenz des Landessportbundes und somit als Trainer berechtigt Übungsstunden abzuhalten.
Angelehnt an das MKT Marburger Konzentrationstrainings hat Reginald Schulze, Boxtrainer und 1. Vorsitzender vom KSC Bensheim e.V. und Nicole Maurer Physiotherapeutin, ein spezielles Programm „Therapeutisches Boxen ADHS“ entwickelt. Mit der Erfahrung aus 35 Jahren Training mit Kindern und Jugendlichen hat Reginald Schulze, diese bis jetzt einmalige Symbiose zwischen Therapeutischen Boxen ADHS und den Erkenntnissen des MKT konzipiert. Das Programm ist speziell auf die ADHS Symptomatik abgestimmt.
Durch gezielte Übungen mittels Boxtechniken werden insbesondere die Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS deutlich verbessert. Sie könne sich bei den Boxtechniken körperlich verausgaben lernen aber auch gleichzeitig ihre Konzentrationfähigkeit zu steigen. Das Therapeutischen Boxen ADHS kann mitunter als eine gesunde Ergänzung zur medikamentösen Behandlung angewendet werden.
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