Fakten statt Leitbilder: Das DIW Berlin will mehr Wissenschaft in der Verbraucherpolitik
„Wir haben zu lange ausgeblendet, wie sich Konsumenten unter realen Bedingungen verhalten“
Ein nationales Verbraucherpanel soll das Konsumverhalten der Deutschen künftig wissenschaftlich begleiten ? und als Basis für eine neue empirisch unterfütterte Verbraucherpolitik dienen. Die Verbraucherpolitik der neuen Bundesregierung sollte sich außerdem stärker an den Ergebnissen der Verhaltensforschung orientieren. Dafür hat sich das DIW Berlin ausgesprochen. „Wir wollen dass die Verbraucherpolitik das macht, was eigentlich selbstverständlich ist: nämlich ihre Instrumente systematisch auf ihre Praxistauglichkeit zu evaluieren,“ sagte DIW-Abteilungsleiter Christian Wey.
Seine Empfehlungen stützt das DIW Berlin auf mehrere heute veröffentlichte Expertenstudien zur Verbraucherforschung. Zentrales Ergebnis der im neuen Vierteljahrsheft zur Wirtschaftsforschung publizierten Studien: Die bisherige Verbraucherpolitik orientiert sich bislang vor allem daran, wie die Konsumenten sein sollten. Ob beim Datenschutz im Internet, bei der Geldanlage oder bei der umstrittenen Nährwertkennzeichnung ? das „Leitbild des mündigen Verbrauchers“ setzt bisher vor allem darauf, die Verbraucher besser zu informieren, aufzuklären, kurz: „mündig“ zu machen.
Wie alltagstauglich ist das Bild des aufgeklärten Verbrauchers?
Im Alltag allerdings verhalten sich die Konsumenten völlig anders als der rationale homo oeconomicus. Dies zeigen unter anderem die Ergebnisse der Verhaltensökonomik. Sie machen deutlich: Eine Politik, die vor allem auf Information setzt und die ausblendet, wie Konsumentscheidungen unter realen Bedingungen getroffen werden, führt für viele Verbraucher in die Sackgasse. Mehr Informationspflichten für die Anbieter beispielsweise bedeuten vielfach schlicht Informationsüberflutung.
„Verbraucherentscheidungen über die private Altersvorsorge sind ein Musterbeispiel dafür, wie groß die Kluft ist zwischen dem Wunschbild des mündigen Verbrauchers und realen Verbrauchern“, sagte DIW-Forschungsdirektorin Dorothea Schäfer. „Es geht um Entscheidungen für Zeiträume von 20, 30 oder 40 Jahren und es geht um Zehntausende oder Hunderttausende ? und dennoch folgt in der Anlageentscheidung die Mehrzahl der Verbraucher simplen Daumenregeln, blendet Risiken aus und folgt oft leichtfertig interessensgebundenen Ratschlägen. Auf sich selbst gestellt, überschätzen manche systematisch ihr Wissen und ihr Urteilsvermögen, andere wiederum sind aus Unsicherheit und Unwissenheit übervorsichtig.“
Die Folge: Der den privaten Haushalten jährlich durch falsche Anlageberatung entstehende Vermögensschaden wird auf 20 bis 30 Milliarden Euro geschätzt. Das entspricht mehr als zehn Prozent der verfügbaren Anlagemittel der Deutschen.
Bildungsschwache bräuchten es am meisten ? und sind am ehesten überfordert
Die bislang vorherrschende Fokussierung der Verbraucherpolitik auf Verbraucherinformation hat auch sozialpolitische Folgen. So sind es am ehesten gut gebildete Bezieher höherer Einkommen, die sich in den unübersichtlichen Märkten für Versicherungen, Geldanlageprodukten oder auch nur beim Stromtarif das für sie beste Angebot heraussuchen können. Einkommensschwachen Haushalten hingegen fehlt überdurchschnittlich häufig die Bildungskompetenz, bei hochkomplexen Konsumentscheidungen die richtige Wahl zu treffen ? oder auch nur zu wissen, wann und wo man lieber unabhängigen Rat suchen sollte.
Die an ordnungspolitischen Leitbildern orientierte Verbraucherpolitik spiegelt sich auch im weitgehenden Fehlen empirischer Daten über Konsumverhalten und Verbraucherpräferenzen. „Es gibt in Deutschland schlicht keine wissenschaftlich, systematisch erhobenen Daten darüber, wie sich Verbraucher entscheiden, was ihnen wichtig und wo sie als Konsumenten die größten Probleme haben,“ beschreibt DIW-Expertin Kornelia Hagen das Defizit. Sie empfiehlt eine Neuausrichtung hin zu einer evidenz-basierten Verbraucherpolitik:
„Von der Bildungspolitik oder der Klimapolitik kann man lernen, wie das geht: Ob es den Klimawandel gibt oder wie deutsche Schüler im internationalen Vergleich abschneiden – darüber braucht man heute nicht mehr zu streiten, weil es wissenschaftlich fundierte Antworten darauf gibt. Die selbe empirisch fundierte Nüchternheit würde man sich auch im Streit darüber wünschen, wie man Lebensmittel kennzeichnet oder wie man verhindert, dass Verbraucher ihre Altersvorsorge mit Lehman-Zertifikaten betreiben.“
Empirie als Basis: Handlungsempfehlungen für Ministerin Aigner
Das DIW Berlin formuliert eine Reihe konkreter Handlungsempfehlungen für die Verbraucherpolitik. Hiezu zählen:
– Lehren aus der Finanzmarktkrise:
Für das politisch besonders dringende Handlungsfeld der Finanzdienstleistungen sollte kurzfristig eine unabhängige, wissenschaftlich fundierte > Bestandsaufnahme aller vorliegenden Vorschläge zur Verbesserung des Verbraucherschutzes erfolgen. Denn die Kritik, dass eine Reihe von Reformvorschlägen noch mit der „heißen Nadel gestrickt“ sind, ist auch aus wissenschaftlicher Perspektive nicht von der Hand zu weisen.
– Konsistenz statt Krisenmanagement:
Die Verbraucherpolitik reagiert oft erst auf Krisen und Skandale ? und ist entsprechend häufig kurzatmig. Für eine konsistente, nachhaltige Politik sollte ein längerfristiges > Forschungsprogramm zur Verbraucherpolitik im Sinne eines Clusters zur Verbraucherforschung aufgelegt werden – anstatt wie bisher üblich Ad-hoc-Forschungsaufträge zu aktuellen Themen zu vergeben. Welche Inhalte in einem entsprechenden Programm erforscht werden sollten, dürfte nicht allein Aufgabe der Politik sein, sondern müsste im Vorfeld der Verabschiedung eines Programms in wissenschaftlichen Foren diskutiert werden.
– Daten statt Glaubenssätze:
Verbraucherpolitik verfügt kaum über Daten und Informationen, die problem- und prozessorientiert generiert sind, mit der Folge einer relativ empiriearmen Forschung. Will man dies ändern, gilt es vorhandene > Daten der Forschung zugänglich zu machen ? zum Beispiel die Beratungsdaten der Verbraucherzentralen.
– Empirie als Grundlage:
Ergänzend hierzu sollte ein unabhängiges , wissenschaftliches > Verbraucherpanel Deutschland etabliert werden. Vergleichbar zum Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) oder dem neuen Nationalen Bildungspanel sollte in einem Verbraucherpanel systematisch untersucht werden, wie Konsumenten unter „real life“-Konditionen entscheiden, wie Verbraucherverhalten beeinflusst wird und wie es sich verändert.
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