LINDNER-Interview für den ?Deutschlandfunk? (31.05.2010)

Berlin (pressrelations) –

LINDNER-Interview für den „Deutschlandfunk“ (31.05.2010)

Berlin. FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER gab dem „Deutschlandfunk“ gestern das folgende Interview. Die Fragen stellte: WOLFGANG LABUHN

Frage: Heute in einer Woche, Herr Lindner, trifft sich das Bundeskabinett zu einer Klausursitzung im Kanzleramt, um nach drei ziemlich turbulenten Wochen in der Innenpolitik im Anschluss an die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und nach all den Turbulenzen in der europäischen Finanzpolitik wieder Tritt zu fassen, um sich Gedanken über die anstehenden Regierungsaufgaben zu machen. Das Kabinett will sich mit den Eckpunkten für den Bundeshaushalt 2011 und auch mit der mittelfristigen Finanzplanung befassen. Bis 2016 müssen ja jährlich rund 10 Milliarden Euro eingespart werden oder zusätzlich erwirtschaftet werden, um der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse zu genügen. Was ist jetzt die vordringlichste Aufgabe?

LINDNER: Wir haben jetzt den Haushalt unter Kontrolle zu bringen, wir wollen als Freie Demokraten einen gesunden Staat, der seinen Aufgaben nachkommen kann und der vor allen Dingen nicht dauerhaft mit Schulden wirtschaftet. Die Griechen halten uns in dieser Beziehung ja den Spiegel vor. Sie zeigen, was passiert, wenn dauerhaft die öffentlichen Finanzen nicht ausgeglichen sind – wenn man in der Gegenwart konsumiert, das, was zukünftige Generationen noch nicht erwirtschaftet haben. Und aus diesem Grund ist jetzt diese Klausur des Bundeskabinetts eine wichtige Zäsur auch für unsere Regierungsarbeit. Wir haben jetzt zum ersten Mal die Möglichkeit, einen eigenen Bundeshaushalt als christlich-liberale Koalition vorzulegen. Der Haushalt 2010 war ja in seinen Grundanlagen noch von Peer Steinbrück geplant gewesen.

Frage: Das Stichwort lautet also zweifellos Haushaltskonsolidierung. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Sparen oder die Einnahmen erhöhen …

LINDNER: Wir ziehen das Sparen vor. Es ist die leichteste Lösung für Politiker, an der Einnahmeschraube zu drehen, also die Steuerbelastung der Bürger zu erhöhen. Das ist aber in einer wirtschaftlichen Krisenphase der schlechteste Weg. Jetzt geht es ja darum, dass wir auch Wachstum schaffen, und dass wir Beschäftigung sichern und dass wir die Mittelschicht nicht zusätzlich belasten. Wir als FDP legen deshalb Wert darauf, dass wir die Aufgaben und die Ausgaben des Staates einer kritischen Prüfung unterziehen. Wir müssen diesen Mechanismus durchbrechen, dass die Bürger gar nicht so schnell erwirtschaften können, wie die Politik wieder neue Aufgaben und Ausgaben für den Staat erfindet.

Frage: Wo kann gespart werden?

LINDNER: Es gibt eine ganze Reihe von Vorschlägen, die in der politischen Debatte sind. Ich fange an etwa mit dem Bereich der Verteidigungsausgaben, der Rüstung. Das ist auch der Bereich, den in allen Umfragen die Bürgerinnen und Bürger als ersten Bereich, bei dem konsolidiert werden muss, genannt haben – nicht zu unrecht, die Bürger haben eine gute Intuition, dass wir noch viele Beschaffungsprojekte bei der Bundeswehr laufen haben, die auf den Kalten Krieg zurückgehen, die heute unseren Frauen und Männern im Einsatz nicht helfen. Hier muss eine Bilanz gezogen werden, eine kritische Bestandsaufnahme gemacht werden. Beispielsweise das Raketensystem MEADS ist heute nicht mehr erforderlich, ich zweifle, ob die Stückzahlen, die bei Eurofighter, beim Transport-Airbus, bei bestimmten Kampfhubschraubern und bei U-Booten geplant sind, ob die tatsächlich noch benötigt werden. Hier ist mittelfristig gewiss ein zweistelliges Milliarden-Euro-Volumen zu heben.

Frage: Den mit Abstand größten Haushalt hat das Arbeits- und Sozialministerium, also das Haus von Frau von der Leyen. Welche Einsparmöglichkeiten könnten sich da ergeben?

LINDNER: Wir wollen nicht zuerst bei Rentnerinnen und Rentnern und bei Menschen ohne Arbeit sparen. Aber in einem so großen Etat gibt es ganz sicher auch Bürokratie, die abgebaut werden kann. Ich will ein Beispiel nennen. Wir haben im Bereich von Hartz IV – das betrifft jetzt in diesem Fall insbesondere die Kommunen – die Regel, dass die Kosten der Unterkunft spitz abgerechnet werden, also nach den tatsächlich anfallenden Kosten. Das hat zu einer unglaublichen Prozesslawine geführt. Die Mehrzahl der gut 200.000 Gerichtsverfahren gegen Hartz IV-Bescheide drehen sich um die Kostenübernahme der Unterkunft, weil hier eine Behörde Ermessen ausüben kann, wie viel Quadratmeter – also, unser Vorschlag ist, wir sollten die Mieten für die Empfänger von ALG II pauschaliert erstatten, natürlich orientiert am jeweils regionalen Mietspiegel, aber pauschaliert. Da fällt viel Antragsbürokratie weg, viele Gerichtsverfahren können eingespart werden. Da geht es nicht um Kürzung, sondern darum, Bürokratie abzubauen, die Würde der Bedürftigen zu stärken, und trotzdem sparen die öffentlichen Haushalte.

Frage: Ist das ab 2013 geplante Betreuungsgeld noch realisierbar, das ja nach dem Willen der Koalition Eltern von unter dreijährigen Kindern gezahlt werden soll, die keinen Krippenplatz in Anspruch nehmen, also die – salopp gesagt – Herdprämie?

LINDNER: Ich will das fachlich gar nicht im Einzelnen bewerten. Dass dieses Betreuungsgeld im Koalitionsvertrag enthalten ist, das ist ein Wunsch der CSU. Während der Großen Koalition haben das Sozialdemokraten und Grüne, wir aber auch als FDP aus fachlichen Gründen abgelehnt. Wir brauchen diese 1,9 Milliarden eigentlich im Krippenausbau und an anderer Stelle. Das sind die vordringlichen Aufgaben. Aber ich will es ausdrücklich jetzt nicht fachlich bewerten, denn wir haben ja im Koalitionsvertrag hier einen Kompromiss geschlossen mit der CSU. Allerdings sieht dieser Kompromiss auch einen Finanzierungsvorbehalt vor. Und nach meiner festen Überzeugung müssen wir jetzt erst Fortschritte bei der Gesundung der Staatsfinanzen erzielen, und erst danach kann wieder über die Erhöhung von sozialen Leistungen oder die Schaffung neuer sozialer Standards wie diesem Betreuungsgeld nachgedacht werden. Erst das eine, dann das andere.

Frage: Die FDP, Herr Lindner, ist angetreten als Steuersenkungspartei, und sie muss jetzt erleben, dass nicht zuletzt auch nach dem Willen der Kanzlerin Steuersenkungen zumindest bis einschließlich 2012 schon einmal ausgeschlossen werden. Und nun muss sie auch hören, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sogar Steuererhöhungen nicht mehr ausschließen möchte. Wie sehen Sie das?

LINDNER: Steuererhöhungen sind für die FDP ausgeschlossen.

Frage: Das können Sie definitiv ausschließen?

Lindner: Ja. Wir sind angetreten, die Mittelschicht zu entlasten. Deshalb werden wir nicht an der Einnahmeschraube bei der Einkommensteuer oder der Mehrwertsteuer drehen. Das ist für uns völlig ausgeschlossen. Richtig ist, dass wir jetzt nicht weitere Entlastungen erreichen können in diesem Jahr, auch im nächsten Jahr nicht. Wir haben in diesem Jahr bereits das Kindergeld erhöht. Das war eine wichtige Entlastungsmaßnahme für die Familien. Wir haben vor, im nächsten Jahr zu einer Steuervereinfachung zu kommen. All das wollen wir tun im Bereich der Vereinfachung, was zunächst nicht zu Einnahmeausfällen führt. Entlastungen sind aber auf den Zeitpunkt verschoben, zu dem die öffentlichen Haushalte wieder tragfähig gemacht worden sind. Das ist jetzt die Gestaltungsaufgabe. Und hier wundere ich mich schon, dass es innerhalb der Union ja Stimmen gibt, auch und gerade den Finanzminister, die eine Vielzahl von Einzeletats von Konsolidierungsbeiträgen ausnehmen. Insbesondere der Etat vo n Frau von der Leyen wird dramatisch geschont. Da sind alle auch strukturellen Maßnahmen mit Samthandschuhen nur angefasst worden, obwohl dort tatsächlich auch Möglichkeiten bestehen. Aber gleichzeitig sitzt der Revolver sehr locker, wenn es darum geht, Steuererhöhungen zu fordern. Da wundere ich mich doch sehr, dass es einen Teil des Koalitionspartners gibt, der sehr leicht über Steuererhöhungen spricht, aber sich sehr schwer damit tut, auch strukturelle Einsparpotenziale zu heben.

Frage: Es gibt auch Stimmen, Herr Lindner, die sagen, dass die Koalition zum Beispiel einige der ermäßigten Mehrwertsteuersätze, zum Beispiel für Tierfutter, auf den Regelsatz von 19 Prozent anheben könnte. Können Sie auch das ausschließen?

LINDNER: Wir wollen ja das System der Umsatzsteuer insgesamt nachvollziehbarer, transparenter, widerspruchsfreier machen. Es gab eine Einzelmaßnahme zu Beginn dieses Jahres für das Beherbergungsgewerbe. Das war eine einzelne Maßnahme, der jetzt nicht noch weitere einzelne folgen sollten, sondern im Gegenteil: Gerade die öffentliche Aufnahme dieses Einzelschritts hat ja gezeigt, dass es ein ganz dringendes Bedürfnis danach gibt, das System der reduzierten Mehrwertsteuersätze jetzt mal wieder auf klare Regeln zurückzuführen. Es kann ja nicht sein, dass bestimmte Luxusprodukte den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bekommen – wie beispielsweise Rennpferde – und bestimmte Produkte des täglichen Bedarfs, ich nenne da mal die Windel, den vollen Mehrwertsteuersatz haben. Ich hab das Ziel, wir haben das Ziel, dass das weitestgehend aufkommensneutral sein sollte innerhalb des Systems der Mehrwertsteuer. Dass es da an einzelnen Stellen natürlich eine Erhöhung vom reduzierten auf den vollen Mehrwertsteuersatz gibt, das ist nur normal.

Frage: Betrifft das auch die Mehrwertsteuerabsenkung für das Hotelgewerbe?

LINDNER: Das Beherbergungsgewerbe ist ja mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz belegt worden aus einem nachvollziehbaren ordnungspolitischen Grund. Die Europäische Union empfiehlt uns ja, dass arbeitsintensive Dienstleistungen weniger stark belastet werden sollten. In diesen Bereichen gibt es sehr viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse und sehr geringe Margen. Deshalb wird dort sehr wenig auch investiert. Und aus dem Grund hatte die Koalition sich ja entschlossen, für den Bereich der Gastronomie und der Hotellerie einen reduzierten Mehrwertsteuersatz vorzunehmen …

Frage: … auf Betreiben der FDP hauptsächlich …

Lindner: … nein, nicht allein auf Betreiben der FDP. Das war nicht nur in den Programmen aller Parteien, sondern insbesondere auch die bayerische CSU hatte ein sehr großes regionales Interesse an dem reduzierten Mehrwertsteuersatz, hier insbesondere für die Hotellerie. Das ist nachvollziehbar, weil es dort einen Wettbewerb im Tourismus mit Österreich gibt. Und deshalb war es insbesondere der CSU-Ministerpräsident, der darauf gedrungen hat, dass im Wachstumsbeschleunigungsgesetz diese Maßnahme ist. Ich gehe so weit zu behaupten, dass die Erhöhung des Kindergeldes nur möglich gewesen ist und nur dadurch die Zustimmung auch der CSU bekommen hat, dass der reduzierte Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie mit im Wachstumsbeschleunigungsgesetz war.

Frage: Nun wird er allerdings der FDP als Klientelpolitik um die Ohren gehauen.

LINDNER: Ja, das ist so eine spezielle Diskussion in Deutschland. Schweizer Medien haben die unlängst als hysterisch bezeichnet.

Frage: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Christian Lindner, dem FDP-Generalsekretär. Herr Lindner, der gesetzlichen Krankenversicherung werden im kommenden Jahr schätzungsweise elf Milliarden Euro fehlen. Am Wochenende nun gab es Meldungen, wonach Gesundheitsminister Philipp Rösler, Ihr Parteifreund, angeblich plant, die Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Krankenversicherung von jetzt 3.750 Euro anzuheben auf die sogenannte Versicherungspflichtgrenze von 4.162 Euro, was unter dem Strich eine Beitragserhöhung von bis zu 30 Euro im Monat ermöglichen könnte. Kennen Sie solche Überlegungen?

LINDNER: Nein. Das sind Spekulationen, die gegenwärtig im politischen Berlin ventiliert werden. Philipp Rösler selbst hat ja verschiedentlich gesagt, dass er mit einer Regierungskommission unser Gesundheitssystem krisenfest machen will. Die Details will er aber zunächst den Partei- und Fraktionsvorsitzenden vorstellen. Das ist noch nicht passiert. Also, all das, was jetzt diskutiert wird, das sind so Einzelimpressionen.

Frage: Herr Lindner, am 9. Mai ist die schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen abgewählt worden. Das war ein Schock für die Union und FDP auch in Berlin, da sie damit ihre Mehrheit im Bundesrat zunächst einmal verloren hat. Ein Schock auch deshalb, weil beide Parteien seitdem ihre Talfahrt in den Meinungsumfragen fortsetzen. Unmittelbar nach der NRW-Wahl sprach Ihr Parteichef Guido Westerwelle von einem „Warnschuss“, von einem „Signal“, das in Berlin auch gehört worden sei. Welches Signal haben sie denn gehört?

LINDNER: Die Menschen haben den Eindruck gewonnen, dass die Koalition in den ersten Monaten der Regierungsarbeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, zu sehr öffentlich Koalitionsverhandlungen noch geführt hat, zu wenig die großen Themen, für die wir ja auch einen Auftrag erhalten haben, angegangen ist: Haushaltskonsolidierung, Gesundheitspolitik, wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik. Und es sind zwei neue Aufgaben noch hinzugekommen, nämlich die Stabilisierung unserer Währung und die Neuordnung der Finanzmärkte. Da ist für viele zu wenig passiert. Das hat zu einer Enttäuschung geführt, und wir müssen uns jetzt rausarbeiten aus dieser Enttäuschungssituation, indem wir jetzt handeln, indem wir zeigen, wie der Pfad der Konsolidierung der Haushalte in den nächsten Jahren beschritten werden wird, auch durch mutige Maßnahmen und nicht nur durch das, was man sonst in den letzten Jahren gesehen hat, indem es auch dann tatsächlich mal über einige Jahre stabilere Formen gibt, d ie das Gesundheitssystem tatsächlich dann auch erneuern, indem wir uns eine Perspektive erarbeiten, wieder das beste Bildungssystem der Welt zu haben, indem wir bürgerliche Freiheiten stärken. Ich könnte die Liste weiter fortsetzen mit der Ordnung der Finanzmärkte und der Wiederherstellung des europäischen Stabilitätspakts. Also, die Handlungsfähigkeit, die die Politik insgesamt – ich sage jetzt nicht nur Regierung, sondern das politische System insgesamt – die Handlungsfähigkeit, die die Politik gezeigt hat bei der Rettung der Banken und der Sparereinlagen, die Stabilität, die wir gezeigt haben bei der Sicherung der europäischen Währungsunion und der Verteidigung unserer Währung, diese Handlungsfähigkeit wollen die Leute jetzt auch bei unseren innenpolitischen Problemen sehen. Und diese Handlungsfähigkeit wollen wir ihnen auch zeigen.

Frage: Was hat die FDP taktisch falsch gemacht, gerade vor der NRW-Wahl?

LINDNER: Es gibt eine Vielzahl Faktoren, die dazu geführt haben, dass wir gegenwärtig nicht die Zustimmung haben, die wir bei der Bundestagswahl hatten. Ich nenne mal zwei exemplarisch. Der erste ist, dass wir ja zu einem unserer Markenzeichen erklärt haben, dass wir das, was wir vor der Wahl sagen, auch nach der Wahl umsetzen wollen. Wenn sich aber die Rahmenbedingungen dramatisch verändern wie jetzt durch die Euro-Krise, dann führt das natürlich zu einer gewissen Spannung, nämlich der Spannung dazu, nicht flexibel auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren zu können und auf der anderen Seite den gegebenen Zusagen vor einer Wahl. Und offensichtlich haben wir hier über eine gewisse Zeit nicht die richtige Balance gefunden zwischen der Prinzipientreue und auch dem situationsadäquaten Handeln, der manchmal notwendigen Anpassung von politischen Prioritäten an eine veränderte Lage.

Frage: War es zum Beispiel wirklich nötig, dass der Bundesaußenminister daheim im Februar eine Sozialstaatsdebatte lostrat, die dem Image der FDP geschadet hat, die ihr Image als Partei einer, sagen wir einmal, sozialen Kälte vielleicht sogar noch verstärkt hat?

LINDNER: Die Debatte hat der Vizekanzler und Parteivorsitzende begonnen, ja nicht der Außenminister, und sie ist notwendig. Niemand kann doch zufrieden sein mit unserem Sozialstaat, der einen immer höheren Anteil an unserer Wirtschaftsleistung beansprucht einerseits, andererseits aber nicht die Ergebnisse erzielt, die wir uns wünschen, nämlich dass Menschen aktiviert werden auch zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt, dass Jugendliche gute Startchancen erhalten und nicht ohne Schul- und Berufsabschluss da stehen.

Frage: War das nicht eine Debatte, die sich für Ihre Partei, die FDP, als Bumerang erwiesen hat?

LINDNER: Nein, das bestreite ich, denn wir müssen diese Debatte führen und wir wollen, dass unser Sozialstaat besser wird dabei, Menschen Chancen zu eröffnen. Wir wollen einen Sozialstaat, aber einen anderen Sozialstaat, einen Sozialstaat, der sich nicht zufrieden gibt mit tollen sozialen Absichten, sondern einen, der die tatsächlich erzielten Ergebnisse im Alltag ins Zentrum stellt. Ich nenne mal ein Beispiel: Viele Milliarden Euro wenden wir auf für aktive Arbeitsmarktpolitik und für Beschäftigungsförderung. Das sieht auf den ersten Blick toll aus. Zu selten wird hingeschaut, was tatsächlich passiert. Da gibt es wirksame Programme, aber es gibt auch krasse Fehlsteuerung. So wird zum Beispiel in den Medien berichtet, dass es Weiterqualifikationsmaßnahmen für einen Langzeitarbeitslosen gab, der durfte nämlich drei mal den selben Gabelstaplerführerschein machen, drei mal den selben Gabelstaplerführerschein! Da wird mit der Lebenszeit dieses Mannes nicht gut umgegangen, und das kostet den Beitragszahler Geld. Mit einem solchen Sozialstaat, der Menschen unwürdig behandelt und in Beschäftigungstherapie schickt und damit das Geld der Beitragszahler verschleudert, mit einem solchen Sozialstaat kann niemand zufrieden sein, weder der Bedürftige noch diejenigen, die von ihrer Leistung abgeben und solidarisch sind.

Frage: Nun muss man allerdings den Eindruck gewinnen, Herr Lindner, dass viele Ihrer Parteifreunde unzufrieden sind. Da wird zum einen kritisiert von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger etwa das Koalitionsverhalten der FDP in Nordrhein-Westfalen. Sie spricht von „Ausschließeritis“, die dem jetzigen Fünf-Parteien-System der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr angemessen sei. Da sagt auch Wolfgang Kubicki, Vorstandsmitglied Ihrer Partei und Fraktionschef in Kiel, sich allen Gesprächen zu verweigern, das sei ein „Sandkastenspiel von Kleinkindern“. Kurz gesagt, gibt es noch eine Chance für eine Ampel-Koalition in Düsseldorf?

LINDNER: Ich sehe zunächst einmal, dass die FDP in Nordrhein-Westfalen ihre Koalitionsaussage ja auf der Basis von Inhalten getroffen hatte. Sie hat gesagt, sie will die erfolgreiche Politik mit der CDU fortsetzen. Das hat der Wähler anders gesehen. Und wir haben daneben gesagt, dass wir Gespräche mit Parteien ausschließen, die ihrerseits mit der Linkspartei eine Koalition ins Auge fassen. Jetzt nehme ich mit Respekt zur Kenntnis, dass SPD und Grüne nach einem einzigen Gespräch gesehen haben, dass die Linkspartei keine Partei ist, mit der man Staat machen kann. Das hätten wir Rot-Grün schon vor der Wahl sagen können. Das wollten diese Parteien aber offensichtlich nicht wahrhaben. Ich frage mich, warum es nicht vorher da bei diesen Parteien eine Klärung gegeben hat …

Frage: … da könnte man jetzt wieder miteinander reden …

LINDNER: … ja, jetzt führen ja SPD und Union Gespräche über die Bildung einer großen Koalition. Und ich finde, dass wir jetzt den Respekt haben müssen, abzuwarten, was dort passiert, und ich sehe auf der anderen Seite nicht, dass SPD und Grüne einerseits und FDP andererseits einen hinreichenden Vorrat an Gemeinsamkeiten haben. Schauen Sie mal, der Vorsitzende der Grünen stellt sich allenthalben in das Fernsehen und ins Radio und sagt, ja, die FDP sei eine radikale Partei, und mit dieser radikalen Partei will er andererseits aber dann Koalitionsgespräche führen. Das halte ich nicht für einen gangbaren Weg. SPD und Grüne müssen auch ihren politischen Kurs überdenken. Da gibt es kluge Leute, und es gibt auch bei SPD und Grünen anschlussfähige Positionen für die FDP im Bereich der Sozialpolitik, auch wenn Sie es überrascht, mit Sicherheit aber auch im Bereich der Gesellschafts- und der Bürgerrechtspolitik, der Bildungspolitik, aber das Gros von Sozialdemokraten und Grünen sieht sich heute näher bei der Linkspartei als bei der FDP. Beide Parteien haben sich von der sehr progressiven Agendapolitik von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement ja entfernt. Dementsprechend sind auch die Berührungspunkte mit unserem FDP-Programm geringer geworden in den letzten Jahren …

Frage: … aber es gibt sie noch?

LINDNER: Ja, es gibt diese noch, und …

Frage: … das heißt, die Karten könnten noch einmal neu gemischt werden?

LINDNER: Für Nordrhein-Westfalen muss das der dortige Landesverband bewerten. Ich habe meine Skepsis ja hier mit Blick auf die Wahlprogramme zum Ausdruck gebracht. Man kann ja auch lesen, was Parteien wollen. Da muss man nicht immer auch nur sprechen. Aber mir geht es um die prinzipielle Aussage. Ich bin ja Generalsekretär der Bundespartei und nicht Landespolitiker, und ich kann generell sagen, dass wir eine prinzipielle Koalitions- und Gesprächsbereitschaft mit SPD und Grünen haben, dass es dort auch respektable Persönlichkeiten und auch interessante Programmpunkte gibt. Aber diese prinzipielle Koalitionsbereitschaft, die besteht eben nicht zu jeder Zeit an jedem Ort und unter allen Voraussetzungen. Es müssen schon die konkreten politischen und übrigens auch persönlichen Voraussetzungen stimmen. In Nordrhein-Westfalen sehe ich weder die politischen Voraussetzungen noch, dass es ein hinreichendes Vertrauen der politischen Führungskräfte gibt.

Frage: Was Parteien überhaupt nicht mögen, Herr Lindner, sind Personaldebatten, vor allem nicht solche, die die Parteiführung betreffen. In der vergangenen Woche musste die FDP erleben, dass genau dies eingetreten ist. Da übte der FDP-Fraktionschef in Schleswig-Holstein, der bereits genannte Wolfgang Kubicki, öffentlich Kritik an Birgit Homburger, der FDP-Fraktionschefin im Bundestag. Da wird auch, wenn auch nicht öffentlich, über die Zusammensetzung der Führungsspitze diskutiert. Da gibt es intern offenbar Kritik, mit einer Ausnahme, muss man fairerweise sagen, und die ist jetzt gerade im Interview der Woche des Deutschlandfunks zu hören. Braucht die FDP außer Christian Lindner noch weitere neue Gesichter in der Führung?

LINDNER: Die Führung der FDP ist breit aufgestellt. Natürlich haben wir einen Parteivorsitzenden, der über 15 Jahre die FDP als Generalsekretär und als Parteivorsitzender ja zu Erfolgen geführt hat. Und ich erwarte schon, dass es, wenn es mal eine Phase gibt, in der wir nicht erfolgreich gewesen sind, dass es da auch eine gewisse Solidarität innerhalb der FDP gibt. Diese Solidarität sehe ich auch. Aus dem Führungskreis der FDP gibt es solche kritischen Stimmen nicht, es sind Landespolitiker, die sich melden und namenlose Heckenschützen. Aber wissen Sie, so lange es Landespolitiker und namenlose Heckenschützen sind, zeigt das, dass die FDP trotz dieser für uns sehr unangenehmen Situation ein hohes Maß an Geschlossenheit hat. Das sollten wir uns auch bewahren, denn die Herausforderungen, die wir in der Regierungspolitik jetzt haben, auch die Diskussionen mit unserem Koalitionspartner über den Kurs – wir haben über den Haushalt 2011 ja schon gesprochen -, die können wir nur dann erfolgreich auch für uns bestehen, wenn wir eine geschlossene Mannschaftsleistung zeigen. Und da leistet jeder seinen Beitrag. Wir sind ein buntes Team, da sind nicht alle so wie der andere. Jeder hat seine Art, sich öffentlich einzubringen, jeder hat seine Themen. Wir sind unterschiedlich, aber wir haben ein gemeinsames Ziel, nämlich die FDP als Partei der Mitte wieder stark zu machen.

Frage: Das muss die FDP jetzt im Wettstreit auch mit ihrem Koalitionspartner Union versuchen. Und da hatte man den Eindruck in letzter Zeit, dass Ihr Parteivorsitzender Guido Westerwelle fast unsichtbar geworden ist in der Öffentlichkeit. Es sind große Dinge diskutiert worden, er trat zwar im Bundestag auf, aber es fehlte das liberale Gegengewicht zu einer Kanzlerin, die etwa die Steuersenkungen bis zum Jahre 2013 kassiert hat, die sich auch weniger optimistisch zum Thema Gesundheitsprämie äußerte und weitere Dinge mehr. Das heißt, sie hat klargestellt, wer kocht und wer kellnert, musste man den Eindruck gewinnen.

LINDNER: Ja, ist nicht mein Eindruck. Ich habe im Laufe des Gesprächs dargestellt, dass wir nicht die Bundeskanzlerin gebraucht haben um unsere Prioritäten neu zu ordnen. Wir haben bereits bei vielen Gelegenheiten gesagt, dass wir zunächst jetzt die Priorität setzen auf Gesundung Staatsfinanzen und darauf, die Finanzmärkte wieder in ihre dienende Funktion für die Realwirtschaft zurück zu führen und dass wir uns dadurch Steuerentlastungen erarbeiten wollen. So verstehe ich die Bundeskanzlerin. Die Bundeskanzlerin hat vielfach auch signalisiert, dass sie zu den Festlegungen des Koalitionsvertrages in der Gesundheitspolitik steht. Das ist ja ein gemeinsames Projekt von Union und FDP, oder ich sage präziser vielleicht: von CDU und FDP. Also, insofern hat es hier nicht der Ausübung der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin bedurft. Ich sehe, dass Guido Westerwelle als unser Vizekanzler, Parteivorsitzender und Außenminister in der Koalition eine wichtige Rolle hat. Er hat vielfa ch angeregt, dass wir uns auf die notwendigen Prioritäten besinnen. Er hat das in öffentlichen Stellungnahmen getan, heute am Tag in einem großen Interview einer Sonntagszeitung erneut, und er hat in der Außenpolitik wichtige Akzente gesetzt, hat seinen Teil dazu beigetragen, dass wir auf europäischer Ebene jetzt auch ein Paket haben schnüren können, das nicht einseitig zulasten der deutschen Steuerzahler geht, sondern dass den Ländern, denen jetzt geholfen werden muss, dass diesen Ländern auch ganz erhebliche Konsolidierungseinschnitte abverlangt werden, in Griechenland. Er hat im Bundestag, Sie haben es selber gesagt, in den zentralen Debatten das Wort genommen. Ich teile also Ihre Kritik nicht.

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