LINDNER-Interview für den „FOCUS“
Berlin. Der FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER gab dem „FOCUS“ (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte THOMAS WIEGOLD.
Frage: Herr Lindner, vor kurzem beklagten Sie, dass Ihre Partei immer als „kalt und herzlos“ dargestellt werde. Warum tut Ihr Parteichef Guido Westerwelle jetzt alles, dass das so bleibt?
LINDNER: Warm und mit Herz bedeutet nicht, dass der Sozialstaat immer nur mehr Geld ausgibt. Ein mitfühlender Liberalismus sorgt dafür, dass Menschen wieder auf eigenen Beinen stehen können, regt sie zur Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft an.
Frage: Selbst Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) nennt Westerwelle einen „Spalter“. Hat er sich im Ton vergriffen?
LINDNER: Er ist kein Spalter. Frau Haderthauer und andere aus der Union üben gerne Stilkritik. Mich interessiert viel mehr, welche Ideen sie haben, um etwa Langzeitarbeitslosen neue Chancen zu eröffnen. Das ist die Debatte, die wir führen müssen, und wir haben sie viel zu lange nicht geführt.
Frage: Der FDP-Kernsatz lautet: „Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet“. Wollen Sie die Regelsätze in Hartz IV senken?
LINDNER: Es gibt zwar einige Ökonomen, die das vorschlagen, aber das ist nicht die Position der FDP. Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass das rot-grüne Verfahren zur Bestimmung der Regelsätze willkürlich war. Ich gehe davon aus, dass die Regelsätze im neuen Verfahren nicht generell gekürzt, aber auch nicht pauschal erhöht werden – wie das zum Beispiel die Grünen wollen. Eine regionale Differenzierung könnte allerdings sinnvoll sein.
Frage: In der FDP-Bundestagsfraktion wird eine Absenkung der Sätze durchaus erwogen.
LINDNER: Die FDP-Fraktion hat klargestellt: Wir führen keine Diskussion um die generelle Kürzung von Regelsätzen. Die notwendige und legitime Grundsicherung für ein Leben in Würde stellen wir ausdrücklich nicht infrage.
Frage: Kernproblem ist der Lohnabstand zwischen denen, die Hartz IV bekommen, und denen, die arbeiten. Wenn Sie nicht an die Regelsätze heran wollen, bleibt Ihnen nur eine Alternative: Mindestlöhne.
LINDNER: Ich begrüße, wenn sich einzelne Branchen einstimmig auf Mindestlöhne verständigen, wie das jetzt ja auch die Position der Lebensmittelkette Lidl ist. Aber wir wollen ausdrücklich keinen unflexiblen und von Politikern festgelegten Mindestlohn.
Frage: Regelsätze nicht runter, kein genereller Mindestlohn ? was dann?
LINDNER: Eine Familie mit einem Ernährer mit geringem Einkommen kommt sehr schnell in einen Bereich, wo sich die Arbeit für ihn nicht mehr lohnt. Wir wollen deshalb die Möglichkeiten des Hinzuverdienstes verbessern und gegebenenfalls Sozialabgaben progressiv ansteigen zu lassen ? wie bei Midi-Jobs. Es gibt viele andere Instrumente, die wir prüfen. Wir wollen beim Arbeitslosengeld II generell die Zuverdienstregeln verbessern. Zurzeit werden ja nur 100 Euro nicht angerechnet, danach muss man von jedem weiteren hinzuverdienten Euro sehr viel abgeben. Das erschwert die Möglichkeit, sich über Teilzeit- und Niedriglohnjobs in den ersten Arbeitsmarkt hochzuarbeiten.
Frage: Läuft das nicht auf staatlich subventionierte Löhne hinaus?
LINDNER: Ich unterstütze lieber Menschen, die sich aus dem Bezug von Transferleistungen herausarbeiten wollen, als ? mit den Worten des Historikers Paul Nolte ? Menschen „fürsorglich zu vernachlässigen“ und sie zu Hause zu lassen.
Frage: Das alles sind Feinjustierungen ? aber ihr Parteichef hat einen völligen Neuanfang des Sozialstaats ausgerufen. Worin besteht der denn?
LINDNER: Uns geht es insgesamt um ein anderes Sozialstaatsverständnis. Wir wollen mehr vorbeugende soziale Investitionen in Bildung. Wir dürfen uns nicht länger an der Höhe sozialer Ausgaben insgesamt orientieren, sondern müssen uns vielmehr fragen, wie die besten sozialen Ergebnisse zu erzielen sind. Der Sozialstaat muss wirksamer, zielgenauer werden.
Frage: Seit vielen Jahren propagiert die FDP ein „Bürgergeld“, in dem alle sozialen Leistungen von einer Stelle ausgezahlt werden. Soll das in dieser Legislaturperiode kommen?
LINDNER: Das Bürgergeld ist eine große, eine faszinierende Reformperspektive, die in dieser Legislaturperiode nur geprüft aber noch nicht umgesetzt werden kann. Aber alle aktuellen Reformschritte im Sozialsystem sollten so ausfallen, dass wir diesem Ziel des Bürgergeldes näher kommen.
Frage: Ist der schrille Ton, den Westerwelle angestimmt hat, vor allem darin begründet, dass die FDP dringend verlorene Wählerzustimmung zurückgewinnen muss? In den ersten hundert Tagen von Schwarz-Gelb haben sie laut Umfragen bis zur Hälfte an Zustimmung verloren.
LINDNER: Jetzt ist Ihr Alarmton schrill. Wir haben ja weiterhin zweistellige Umfrageergebnisse. Wir bemühen uns, den erfolgreichen Weg der FDP weiterzugehen. Und das ist eine Politik, die auf einen fairen Interessenausgleich zwischen Leistungsempfängern und Leistungsgebern setzt, auf eine neue Balance zwischen Staat und Privat. Und die konkret sagt, was sie will.
Frage: Die FDP als Stimme der schweigenden Mehrheit?
LINDNER: Die FDP als Wahrer des Gemeinwohls. Man darf keine Politik machen, die immer nur auf einzelne Gruppen schaut, sondern muss sich auch für den Ausgleich unterschiedlicher Gruppen einsetzen. Dazu gehören ausdrücklich auch die 25 Millionen Steuerzahler, die in den letzten Jahren immer weiter belastet wurden, ohne dass mit ihren stark steigenden Steuern und Abgaben bessere soziale Ergebnisse erreicht worden wären.
Frage: Der Vorwurf, die FDP betreibe Klientelpolitik, scheint Sie doch getroffen zu haben.
LINDNER: Wenn die Grünen in diesen Tagen sagen, dass sie die Hartz-IV-Sätze auf 420 Euro anheben wollen, dann kostet das den Steuerzahler zwanzig Milliarden Euro zusätzlich. Weitere Zwei Millionen Menschen wären dann Empfänger von ergänzenden ALG-II-Leistungen. Und trotz dieser einseitigen Parteinahme würde niemandem eine neue soziale Aufstiegschance eröffnet.
Frage: Ihr Koalitionspartner CDU scheint zunehmend Gefallen an den Grünen zu finden und spekuliert bereits offen über ein schwarz-grünes Bündnis in Nordrhein-Westfalen. Für die FDP ein Horrorgespenst?
LINDNER: Es wäre für das Land eine Horrorvision. Die Grünen in NRW sagen selbst, dass sie der Linkspartei näher stehen als der FDP. Legt man die Programme nebeneinander, stellt man fest, dass sie der Linkspartei näher stehen als der SPD. Die Grünen tun gegenwärtig so, als stünden sie für Schwarz-Grün bereit. Ich sage voraus: Wenn es eine rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün gibt, dann machen die Grünen das. Die Grünen sind in NRW das trojanische Pferd der Linkspartei.