LINDNER-Interview für den „Tagesspiegel am Sonntag“ (14.03.2010)
Berlin. Der FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER gab dem „Tagesspiegel am Sonntag“ (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten ANTJE SIRLESCHTOV und CHRISTIAN TRETBAR.
Frage: Herr Lindner, ist die FDP eine Klientelpartei, die Hoteliers zu Steuererleichterungen verhilft und deren Chef Günstlinge und Sponsoren als Außenminister mit auf Weltreise nimmt?
LINDNER: Endlich mal eine Frage, die ohne Vorurteile auskommt. Inklusive der Linkspartei wollten alle Parteien die reduzierte Umsatzsteuer, weil in der Beherbergung Arbeitsplätze gefährdet waren und Investitionen fehlten. Das war ein Vorgriff auf die ohnehin vorgesehene Neuordnung des Umsatzsteuersystems. Und Guido Westerwelle hat sich an alle Regeln und Gepflogenheiten gehalten.
Frage: Auch, wenn alles legal ist: Darf ein Außenminister den Anschein zulassen, er begünstige Unternehmer, an denen mittelbar oder unmittelbar seine Familie und sein Lebensgefährte beteiligt sind?
LINDNER: Es fällt auf, dass an die FDP nicht die üblichen Maßstäbe angelegt werden. Steinmeier hat einen befreundeten Verleger zu elf Reisen eingeladen. Gabriel hat als Politiker das VW-Gesetz verteidigt und als privater Berater von VW 130.000 Euro Honorar erhalten. Ich will daraus keine Vorwürfe ableiten, denn die politische Kultur wird beschädigt, wenn sich die Parteien mit Vorwurf und Gegenvorwurf beharken. Es ist eben eine Realität, dass Spitzenpolitiker persönliche Netzwerke haben. Das muss man akzeptieren. Wir sollten uns alle zusammen besser über Sachfragen streiten.
Frage: Sie erklären die Vorwürfe gegen Westerwelle als Retourkutsche für seine Hartz-Kampagne. Breitet sich in der FDP ein Klima der sozialen Kälte aus?
LINDNER: Wie kommen Sie darauf?
Frage: Der Berliner FDP-Abgeordnete Rainer-Michael Lehmann hat damit in dieser Woche seinen Übertritt von der FDP zur SPD begründet.
LINDNER: Nach meinem Eindruck hat der Schritt von Herrn Lehmann nicht mit der Programmatik der FDP, sondern vielmehr mit seinen individuellen Karriereerwartungen zu tun. Und für die FDP stelle ich fest: Wir machen sozial verantwortliche Politik.
Frage: Warum nehmen die Menschen das nicht wahr?
LINDNER: Ihre These bezweifle ich. Wir haben zur Bundestagswahl fast 15 Prozent der Menschen für unser politisches Konzept der Balance zwischen Leistungsgebern und Leistungsempfängern gewonnen. Natürlich ist die Mitte der Gesellschaft solidarisch. Aber sie darf nicht überfordert werden. Und deshalb wollen wir dafür sorgen, dass die Menschen in Arbeit kommen.
Frage: Indem Sie den Druck auf Arbeitslose erhöhen und die staatlichen Leistungen kürzen wollen?
LINDNER: Sie haben unser Konzept offenbar nicht gelesen. Wir haben eine sich verfestigende Arbeitslosigkeit und jedes Jahr wieder junge Leute, die die Schule ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt verlassen. Gleichzeitig haben sich die Sozialbudgets seit 1990 erheblich ausgeweitet. Ein Drittel der Wirtschaftsleistung wendet der Staat für Sozialleistungen auf, aber die Ergebnisse befriedigen immer weniger. Unser Ansatz ist es, die Chancen der Menschen zu erhöhen, statt sie mit immer mehr Sozialleistungen abzuspeisen.
Frage: Das klingt toll. Allerdings glaubt hierzulande jeder, dass die FDP aus dem „teuren Schwächling“, wie Sie den wenig effizienten Staat nennen, lediglich einen für die Reichen „billigen Schwächling“ machen will?
LINDNER: Ich bin erstaunt, wie meine Anlehnung an Ralf Dahrendorfs Warnung vor dem Staat als „teurem Versager“ Ihre Phantasie beflügelt. Unsere Taten widerlegen jedenfalls Ihre Behauptung. Wir haben nicht den Spitzensteuersatz gesenkt sondern das Kindergeld erhöht. Wir wollen einen fairen Interessenausgleich zwischen denen, die Steuern zahlen, und denen, die Leistungen beziehen. Die Menschen zahlen nach harter Arbeit eine Menge Geld für den Sozialstaat. Dafür bringt dieser Sozialstaat aber zu wenig hervor. Das muss sich ändern.
Frage: Durch den Rückzug des Staates?
LINDNER: Ich bin davon überzeugt, dass man durch mehr Treffsicherheit und Effizienz sozialere Ergebnisse erzielen kann, ohne dass die Budgets ausgeweitet werden müssen. Wenn z.B. ein Arbeitssuchender laut Medienberichten dreimal den gleichen Gabelstaplerführerschein machen muss, kostet das zwar viel Geld, hilft aber nicht bei der Jobsuche.
Frage: Von Ihnen stammt der Begriff des „mitfühlenden Liberalismus“. Was soll das bedeuten?
LINDNER: Aus meiner Sicht hat der Liberalismus zwei Pole. Liberale sind zum einen für eine auf Regeln basierende Ordnung. Innerhalb dieses Rahmens respektiert der Staat aber die persönliche Freiheit. Es gelten die Prinzipien von Eigenverantwortung und Wettbewerb. Den zweiten Pol nenne ich mitfühlenden Liberalismus. Wir verschließen nicht die Augen davor, dass es Menschen gibt, die noch nicht oder dauerhaft nicht den Anforderungen einer Leistungsgesellschaft nachkommen können. Jeder kann in eine solche Lage kommen. Damit diese Menschen ihre Freiheitschancen verwirklichen können, müssen sie erst einmal gestärkt und unterstützt werden. Dafür brauchen wir eine solidarische Bürgergesellschaft und auch einen wirksamen Sozialstaat.
Frage: Ist der mitfühlende Liberalismus eine Weiterentwicklung der FDP-Politik aus der Erkenntnis der Realität heraus, oder Politikmarketing?
LINDNER: Ich versuche, einem Aspekt unserer Programme seit den „Freiburger Thesen“ einen Begriff zu geben. Es geht um eine positive Definition des aktiven Staats. Im Unterschied zu diesem schwärmerischen Etatismus, der sich neuerdings über Feuilletons einschleicht, denken wir aber die Grenze von Staatstätigkeit mit. Die liberalen Prinzipien gelten über den Tag hinaus: Freiheit in Verantwortung, die Achtung vor Privatsphäre und Privateigentum etwa. Allerdings müssen diese Werte immer neu interpretiert werden. Dabei kommt man zur Abwägung von Staat und Privat. Etwa, weil der Staat an einer bestimmten Stelle Freiheit nicht hinreichend verteidigt oder ermöglicht. Das ist im Bildungssystem so. Vor allem auch im Finanzsektor, wo wir gleichzeitig zu wenig Staat hatten, der den Finanzmarkt geordnet hat, und zu viel Staat, der auf dem Markt mit seinen Landesbanken mitgespielt hat. Ein liberaler Staat muss die Finanzmärkte jetzt endlich auf ihre dienende Funktion für die Wirtschaft zur ückführen. Er darf systemgefährdende Papiere nicht besteuern, sondern muss sie gleich ganz verbieten. Wenn er höheres Eigenkapital von den Banken fordert, begrenzt er Renditen, Boni und Risiken zugleich. Und die von Hans Eichel zersplitterte Bankenaufsicht müssen wir wieder stark machen. Die besten Talente sollen Bundesbanker und nicht Investmentbanker werden wollen.
Frage: Wie wollen Sie den Liberalismus im Sozialstaatsbereich neu interpretieren?
LINDNER: Wir müssen den Sozialstaat von den Chancen der Menschen her denken. Das bedeutet soziale Investitionen. Eltern und Schule haben versagt, wenn Hauptschüler als Berufswunsch „Hartz IV“ angeben. Deshalb müssen wir uns viel mehr mit dem Bildungssystem befassen ? qualitativ und quantitativ. Wir brauchen eine Strategie: Bund, Länder, Kommunen, Schulen, Arbeitgeber und Familien sollten viel engagierter das Ziel verfolgen, dass Deutschland in zehn Jahren das beste Bildungssystem der Welt hat. Denn je stärker wir junge Menschen machen, desto seltener werden sie später den Sozialstaat brauchen.
Frage: Die SPD-Spitzenkandidatin im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, sagt, es gebe Hartz-IV-Empfänger, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Job mehr finden. Für sie soll gemeinnützige Arbeit geschaffen werden. Müssen wir uns von dem Ziel Vollbeschäftigung verabschieden?
LINDNER: Ich finde die Äußerungen von Frau Kraft bemerkenswert. Sie schreibt Menschen ab und will sie, wie sie sagt, in einen sozialen Arbeitsmarkt überführen. Wir wollen dagegen niemanden aufgeben. Jeder hat eine Chance. Es kann sein, dass Menschen nicht die an der Produktivität orientierten Löhne erreichen können. Deshalb dürfen wir die Chancen des Niedriglohnbereichs nicht missachten, wie die SPD das will, sondern wir müssen Transferleistungsbezug und gering entlohnte Beschäftigung klug miteinander verbinden. Und es gibt einen zweiten Nachteil des sozialen Arbeitsmarktes: Reguläre Beschäftigung in den Kommunen wird verdrängt.
Frage: Was machen wir mit den Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Job mehr finden?
LINDNER: Es gibt mit Sicherheit Menschen, die nicht in der Lage sind, voll erwerbstätig zu sein. Sie können aber vielleicht Teilzeit arbeiten. Das muss der Staat unterstützen. Wir wollen keine Beschäftigungstherapie. Zuerst muss Vermittlung kommen, und Qualifikation. Und wenn beides nicht hilft, dann gibt es etwa ergänzenden Transferleistungsbezug bei Teilzeit- oder Niedriglohnbeschäftigung oder Arbeitsgelegenheiten.
Frage: Gibt es zu wenig Bereitschaft zu Teilzeitbeschäftigung oder kleinen Jobs?
LINDNER: Diese Jobs sind gegenwärtig nicht attraktiv genug. Wer zu Hartz IV heute 400 Euro dazu verdient, kann davon nur 160 Euro behalten. In unserem Modell wären es 220 Euro. Mir nötigt es Respekt ab, dass viele Menschen sogar für weniger als den Stundensatz, der sich aus Hartz IV ergibt, arbeiten. Im Einzelfall mag Antrieb und Einsatzbereitschaft verloren gegangen sein. Aber es gibt es auch den andern, der morgens für ganz kleines Geld aufsteht.
Frage: Das Bild des Faulpelzes mit Hartz IV ist schief?
LINDNER: Ja. Im Leben gibt es die einen und die anderen. Und obwohl es zu viele sind, die es sich bequem machen wollen, würde die deutlich größere Zahl gern wieder arbeiten.
Frage: Welche Bedeutung hat für Sie der Satz: Jeder, der Vollzeit arbeitet, muss sich und seine Familie von seinem Lohn ernähren können?
LINDNER: Dieser Satz ist als normatives Leitprinzip fraglos richtig.
Frage: SPD und Gewerkschafter begründen damit ihre Forderung nach einem einheitlichen staatlich festgelegten Mindestlohn.
LINDNER: Ich bin aber kein Gesinnungs- sondern ein Verantwortungsethiker. Der Gesinnungsethiker kann so argumentieren wie die SPD. Ich schaue auf die Ergebnisse. Frankreich hat eine exorbitante Jugendarbeitslosigkeit durch den Mindestlohn. Ich sage, durch einen flächendeckenden Mindestlohn verdrängen wir reguläre Beschäftigung. Ich möchte nicht, dass wir Wahlkämpfe führen über die Höhe des politisch festgelegten Mindestlohns.
Frage: Wie erklären Sie das der Reinigungskraft, die sich für 2,50 Euro Stundenlohn verdingen muss. Wo ist da der mitfühlende Liberalismus?
LINDNER: Die FDP ist nicht gegen branchenspezifische Mindestlöhne, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Tarifausschuss einstimmt darauf verständigen.
Frage: Brauchen wir mehr davon?
LINDNER: An mir scheitert das nicht. Aber Achtung auch vor Missbrauch: Der dominante Postkonzern hat in der Vergangenheit über das Instrument eines Branchenmindestlohns eine Reihe von Wettbewerbern enthauptet. Da sind Arbeitsplätze verloren gegangen.?
Frage: Zurück zum „teuren Schwächling“ Staat. Wir haben eine Rekordverschuldung in diesem Jahr und Sie sprechen von Bildungsinvestitionen. Wie verträgt sich das mit dem Ziel der FDP, die Steuern um fast 20 Milliarden Euro zu senken?
LINDNER: Wir müssen hart für unsere Ziele arbeiten. Die 60 Prozent der Bürger, die mittlere Einkommen beziehen, zahlen heute preisbereinigt mehr Steuern als 1991. Mit jeder nominellen Lohnerhöhung steigt die reale Belastung weiter. Wer daran nichts ändert, der nimmt in Kauf, dass die Spielräume für Eigenvorsorge, für die Förderung der Kinder, für Investitionen und Konsum weiter eingeschränkt werden. Deshalb wollen wir die so genannte kalte Progression abschaffen. Und wir werden bei Geringverdienern etwas tun. Wir reden nicht über den Spitzensteuersatz.
Frage: Werden wir uns schon 2011 Steuersenkungen leisten können?
LINDNER: Diese Jahreszahl hat die CSU zwei Wochen vor der Bundestagswahl verabschiedet. Die FDP hat schon vor Wochen daran erinnert, dass wir immer vom Jahr 2012 ausgegangen waren.
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