Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht generell verletzt

Karlsruhe (pressrelations) –

Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht generell, sondern nur durch konkrete Handhabung der Regeln über die anteilige Kürzung von Emissionsberechtigungen durch das Bundesverwaltungsgericht verletzt

Das Kyoto-Protokoll sieht für die Europäische Union für die Jahre 2008 bis 2012 eine Senkung der Emission klimaschädlicher Treibhausgase um 8 % gegenüber dem Stand von 1990 vor. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung hat die Europäische Gemeinschaft eine Emissionshandelsrichtlinie erlassen. Diese wurde in Deutschland durch das Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (TEHG) und durch Zuteilungsgesetze für die Perioden 2005 bis 2007 (ZuG 2007) und 2008 bis 2012 (ZuG 2012) umgesetzt. Die Zuteilungsgesetze legen Ziele für die Emission von Kohlendioxid in Deutschland sowie Regeln für die Zuteilung von Emissionsberechtigungen fest.

Der Grundmechanismus des damit geregelten Emissionshandelssystems lässt sich wie folgt beschreiben: Die Freisetzung von Kohlendioxid durch bestimmte unter den Anwendungsbereich des TEHG fallende Tätigkeiten bedarf einer Emissionsgenehmigung. Diese Genehmigung setzt voraus, dass der Verantwortliche – in der Regel der Anlagenbetreiber – im Stande ist, die durch seine Tätigkeit verursachten Emissionen zu ermitteln und hierüber Bericht zu erstatten. Der Verantwortliche ist sodann verpflichtet, bis zum 30. April eines jeden Jahres eine Anzahl von Emissionsberechtigungen an das Umweltbundesamt als zuständige Behörde abzuliefern, die den durch seine Tätigkeit im vorangegangenen Kalenderjahr verursachten Emissionen entspricht. Vor Beginn der Zuteilungsperiode haben die Verantwortlichen allerdings nach Maßgabe des jeweiligen Zuteilungsgesetzes einen Anspruch auf Zuteilung von Berechtigungen durch das Umweltbundesamt. Um das im ZuG 2007 für die Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 festgelegte Budget von 495 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einzuhalten, wurden die beabsichtigten Zuteilungen für bestimmte Anlagen gemäß § 4 Abs. 4 ZuG 2007 anteilig – nämlich um rund 4,6 % – gekürzt. Hiervon betroffen waren insbesondere Bestandsanlagen, deren Zuteilungen auf der Grundlage ihrer historischen Emissionen bereits um einen gesetzlich festgelegten Erfüllungsfaktor zu kürzen waren. Von der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 ausgenommen waren zum Beispiel Zuteilungen an Neuanlagen, die auf der Grundlage der besten verfügbaren Technik erfolgten, oder Zuteilungen für prozessbedingte Emissionen.

Die Beschwerdeführerin – eine Aktiengesellschaft – ist ein Unternehmen der Energiewirtschaft, das in F. ein Kraftwerk betreibt. Mit Bescheid des Umweltbundesamts wurden für dieses Werk 60.954.891 Berechtigungen zugeteilt. Ohne anteilige Kürzung hätte das Unternehmen weitere 2.952.660 Berechtigungen erhalten. Der hierauf eingelegte Widerspruch blieb ebenso erfolglos wie die anschließend erhobene Klage und die Revision zum Bundesverwaltungsgericht. Die Beschwerdeführerin hat am 12. Dezember 2007 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie wendet sich unmittelbar gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sowie mittelbar gegen § 4 Abs. 4 ZuG 2007 und rügt die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 und Art. 2 Abs. 1 GG.

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde – soweit sie sich gegen die anteilige Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 als solche richtet – nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich der konkreten Anwendung von § 4 Abs. 4 ZuG 2007 hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückgewiesen.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin auch nach Ablauf der Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 nicht entfallen. Es ist durch die höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht geklärt, ob der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Mehrzuteilung von Berechtigungen für die Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 trotz deren Ablaufs noch erfüllt werden kann oder ob sich der Anspruch mittlerweile erledigt hat. Selbst dann, wenn man von der Erledigung des Zuteilungsanspruchs für diese Periode ausgeht, ist die Beschwer nicht entfallen. Denn bei Bestehen eines berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zuteilungsentscheidung – wie im Falle der beabsichtigten Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs – kann die Klage auf Zuteilung weiterer Berechtigungen als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführt werden.

Sollte man den Ausgangsrechtsstreit trotzdem für erledigt halten, ist hier für die Verfassungsbeschwerde vom Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Falle der Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens die entscheidenden Kriterien für das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses darin gesehen, dass entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt. Die der Beschwerdeführerin bei der Anwendung des für die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 geltenden ZuG 2012 drohende Wiederholung der von ihr behaupteten Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG durch die Gerichte gebietet eine verfassungsgerichtliche Prüfung schon zum vorliegenden Zeitpunkt. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen § 4 Abs. 4 ZuG 2007 wendet, kann eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht festgestellt werden.

In der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich aus § 4 Abs. 4 ZuG 2007 die Befugnis der zuständigen Behörde, zur Ermittlung des Faktors der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 über die Menge der nach den Vorschriften des ZuG 2007 zuzuteilenden Berechtigungen eine Prognose zu treffen, deren verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt ist. Die Gerichte hätten nur zu prüfen, ob die Behörde zum maßgeblichen Zeitpunkt die Zuteilungsmaßstäbe und Zuteilungsregeln des Gesetzes generell verkannt und damit einen unzutreffenden Prognosemaßstab zugrunde gelegt habe. Die Prognoseentscheidung sei zu beanstanden, wenn die Prüfung der Richtigkeit der nach dem ZuG 2007 erforderlichen Angaben der Anlagenbetreiber generell nicht dem Maßstab des § 17 ZuG 2007 entsprochen habe, wenn die Zuteilungsregeln der §§ 7 ff. ZuG 2007 generell unzutreffend angewendet worden seien oder wenn die Berechnung des Kürzungsfaktors generell auf einer fehlerhaften Auslegung der Behörde beruhe. Demgegenüber führe die unrichtige Anwendung des Gesetzes bei Zuteilungen im Einzelfall nicht zur Rechtswidrigkeit der ermittelten Zuteilungsmenge oder des daraus abgeleiteten Kürzungsfaktors. Da die Rechtmäßigkeit der Prognoseentscheidung von individuellen Fehlzuteilungen unberührt bleibe, seien im Zuteilungsverfahren unterlaufene Fehler ungeeignet, die Vertretbarkeit der behördlichen Prognose über die Zuteilungsmenge in Frage zu stellen. Soweit der von der Behörde ermittelte Kürzungsfaktor hiernach rechtmäßig sei, sei er auch für die gerichtliche Nachprüfung angefochtener Zuteilungsbescheide maßgeblich.

Der Bürger hat nach Art. 19 Abs. 4 GG einen Anspruch auf möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Dazu gehört vor allem, dass der Richter eine hinreichende Prüfungsbefugnis über die tatsächliche und rechtliche Seite des Rechtsschutzbegehrens hat sowie über eine zureichende Entscheidungsmacht verfügt, um einer erfolgten oder drohenden Rechtsverletzung wirksam abzuhelfen. Jedoch kann auch nach Art. 19 Abs. 4 GG die gerichtliche Überprüfung nicht weiter reichen als die materiellrechtliche Bindung der Exekutive. Die gerichtliche Kontrolle endet also dort, wo das materielle Recht der Exekutive in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Entscheidungsprogramme vorzugeben. In welchem Fall der Gesetzgeber der Verwaltung die Befugnis zur Letztentscheidung einräumt, ist durch Auslegung der betreffenden gesetzlichen Regelung zu ermitteln. Allerdings kann sich auch dann die Letztentscheidungsbefugnis der Behörde nur auf die konkrete Rechtsanwendung – die Subsumtion – und nicht auf die Beurteilung der rechtlichen Maßstäbe, das heißt deren Auslegung und deren Rechtmäßigkeit, beziehen. Die Interpretation der generell-abstrakten Rechtsnorm und der in ihr enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe ist eine originäre Funktion der rechtsprechenden Gewalt, nicht Aufgabe der Verwaltung.

Bei Anwendung dieser Vorgaben ist hinsichtlich der grundsätzlichen Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, § 4 Abs. 4 ZuG 2007 räume dem Umweltbundesamt einen Prognosespielraum ein, eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG nicht ersichtlich. Diese Auslegung kann sich insbesondere auf eine funktional-gewaltenteilende Rechtfertigung einer Letztentscheidungsbefugnis stützen. Bestimmt der Gesetzgeber, dass für die Berechnung des Kürzungsfaktors nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 der Zeitpunkt unmittelbar vor Erteilung der Zuteilungsbescheide maßgeblich sein soll, kann daraus nur geschlossen werden, dass der zuständigen Behörde bei der Bestimmung der für die Berechnung des Kürzungsfaktors relevanten Gesamtmenge der zuzuteilenden Berechtigungen ein Prognosespielraum eingeräumt werden soll. Denn der Gesetzgeber konnte bei einer solchen Verfahrensgestaltung nicht davon ausgehen, dass die vor Beginn des Zuteilungsverfahrens ermittelte Zuteilungsmenge sich aus einzelnen Zuteilungsbescheiden zusammensetzt, deren jeweilige Rechtmäßigkeit in einem gerichtlichen Verfahren festgestellt worden ist. Vielmehr konnte der Gesetzgeber bei der Normierung eines solchen Berechnungsverfahrens von der Behörde nur verlangen, dass sie mit den abstrakt-generellen Maßstäben des Gesetzes hinreichend vertraut ist sowie auf der Grundlage von Zuteilungsanträgen entscheidet, deren Angaben hinreichend auf ihre Richtigkeit überprüft wurden. Hält der Gesetzgeber diesen Zeitpunkt für die Berechnung des Kürzungsfaktors für maßgeblich, gilt dies auch für die gerichtliche Kontrolle.

Dass für die Berechnung des Kürzungsfaktors nur der Zeitpunkt unmittelbar vor Erteilung der Zuteilungen maßgeblich sein sollte, ist in der hier angegriffenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in verfassungsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise begründet worden. Das Bundesverwaltungsgericht hat – indem es zudem auf die Funktionsfähigkeit des Zuteilungsverfahrens abstellte – gut vertretbar begründet, dass nachträgliche Änderungen individueller Zuteilungen für den Kürzungsfaktor unerheblich sein sollen. Wäre die Rechtmäßigkeit des Faktors der anteiligen Kürzung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 davon abhängig, dass alle in die Berechnung der relevanten Zuteilungsmenge eingestellten Einzelzuteilungen bestandskräftig feststünden, wäre eine Bestimmung des Kürzungsfaktors innerhalb der Zuteilungsperiode, für die die Berechtigungen zuzuteilen wären, angesichts der zu erwartenden Dauer der Gerichtsverfahren praktisch nicht möglich. Darüber hinaus würde eine in einer Vielzahl von Verfahren und in mehreren Instanzen erfolgende Überprüfung der Richtigkeit sämtlicher Zuteilungen zur Feststellung des richtigen Kürzungsfaktors nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 zu einem juristischen „perpetuum mobile“ führen.

Die von der Beschwerdeführerin genannten Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG stehen dem durch § 4 Abs. 4 ZuG 2007 eingeräumten Prognosespielraum ebenfalls nicht entgegen. Allein der Umstand, dass eine Verwaltungsentscheidung mit einer Grundrechtsbeeinträchtigung verbunden ist, löst nicht automatisch ein Verbot jeder Letztentscheidungsermächtigung aus.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verletzt aber Art. 19 Abs. 4 GG, soweit es um die konkrete Anwendung des von § 4 Abs. 4 ZuG 2007 eingeräumten Prognosespielraums geht. Soweit das Bundesverwaltungsgericht davon ausgegangen ist, die Rechtswidrigkeit einer die gesetzlichen Zuteilungsregeln näher bestimmenden Rechtsverordnung – nämlich der für prozessbedingte Emissionen geltende § 6 Abs. 6 Zuteilungsverordnung 2007 – sei für die Rechtmäßigkeit der Prognoseentscheidung nach § 4 Abs. 4 ZuG 2007 unbeachtlich, obwohl die anteilige Kürzung für die Beschwerdeführer weniger streng ausgefallen wäre, verkennt das Gericht die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben grundsätzlich.

Die in Parallelentscheidungen vom Bundesverwaltungsgericht (siehe nur Urteil vom 16. Oktober 2007 – 7 C 28.07 -) gegebene Begründung zur Unbeachtlichkeit der Nichtigkeit der Rechtsverordnung, die auf die Offensichtlichkeit von deren Rechtswidrigkeit abstellt, trägt die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle nicht. Die gesetzliche Einräumung einer Letztentscheidungsbefugnis entbindet die Fachgerichte nicht von der Prüfung der abstrakt-generellen Vorgaben. Ist eine Letztentscheidungsbefugnis eingeräumt, kann sich dies nur auf die konkrete Rechtsanwendung – die Subsumtion – und nicht auf die Beurteilung der rechtlichen Maßstäbe, das heißt deren Auslegung und deren Rechtmäßigkeit, beziehen.

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