Rede Frank-Walter Steinmeier bei der Europadelegiertenkonferenz am 8. Dezember 2008

(BSOZD.com-NEWS) Berlin. Rede des Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, auf der Europadelegiertenkonferenz der SPD am 8. Dezember 2008 in Berlin

Liebe Genossinnen und Genossen, es sind noch drei Wochen bis zum Ende eines Jahres, das in die Geschichtsbücher eingehen wird. 2008 wird nicht als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem Spanien Fußball-Europameister wurde; und leider auch nicht dafür, dass wir die Zahl der Arbeitslosen wieder unter drei Millionen gebracht haben. Ich bin sicher 2008 wird später einmal als Jahr einer Zeitenwende gelten, ähnlich wie 1989 beim Fall der Mauer.

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In beiden Jahren war es eine Ideologie, die zusammengebrochen ist. Vor 20 Jahren war es die Ideologie des realen Sozialismus. Die Politbüros wollten nicht wahrhaben, dass die Menschen auf Dauer ohne Freiheit und Wohlstand nicht leben wollen. Heute ist es die Ideologie der Marktradikalen, die wie ein Kartenhaus zusammengebrochen ist. Die Hohepriester der wundersamen Geldvermehrung in den Bankentürmen – sie haben uns in ein Desaster geführt, dessen Ausmaß immer deutlicher wird. Darum wird 2008 in die Geschichtsbücher eingehen: Weil im Herbst dieses Jahres zutage trat, was für ein fundamentaler Irrtum es war zu glauben, dass das völlig freie Spiel der Kräfte, Wettbewerb ohne Grenzen und Vernunft, eine Finanz- und Wirtschaftsordnung nach dem Prinzip der kurzfristigen Rendite, auf Dauer Bestand haben könnte. Nein, in diesem Jahr kein Sommermärchen. Eher ein Alptraum am Ende eines kurzen Sommers. Der Turbokapitalismus ist Geschichte. Die Zeit der Heuschrecken ist vorbei, liebe Genossinnen und Genossen!

Aber das ist leider kein Grund zum Durchatmen. Denn das Erbe dieser Zeit wird eine Last sein, die wir alle miteinander zu tragen haben werden. Die Krise der Finanzmärkte hat die Realwirtschaft mit nach unten gerissen. Und wir stehen dabei leider nicht am Ende der Talsohle. Ich bin kein Schwarzmaler, aber ich will die Lage auch nicht schönreden. Weltweite Rezession auf allen für uns relevanten Märkten! Das wird uns, den Exportweltmeister, in Mitleidenschaft ziehen. Wenn die Konjunktur in den USA wegbricht, wenn in ganz Europa Aufträge drastisch zurückgehen, wenn die Nachfrage in China, Indien und vielen anderen Schwellenländern schlagartig einbricht – dann herrscht auch in deutschen Betrieben Flaute. Das erleben wir gerade. Die guten Jahre sind vorläufig zu Ende. Vor uns liegt jetzt eine wirtschaftlich schwierige Zeit.

Aber auch eine Zeit, für die wir besser gerüstet sind als in den meisten Wirtschaftskrisen vorher. Wir haben viele Polster und Puffer, die den Abschwung jetzt gerade abfedern. Das ist zu spüren. Das sagen Wirtschaft und Gewerkschaften. Und dass das so ist, das verdankt Deutschland ganz wesentlich unserer sozialdemokratischen Politik. Das müssen wir den Menschen deutlich machen!

Es ist gar nichts schön zu reden! Aber immerhin: Heute stehen wir mit weniger als drei Millionen Arbeitslosen da. Wir haben solide gefüllte Sozialkassen. Nächstes Jahr werden nach den Löhnen auch die Renten wieder deutlich steigen.

Und wir haben zum ersten Mal seit den 80er Jahren wieder einen ordentlichen Staatshaushalt, der uns überhaupt erst handlungsfähig macht in der Krise. Das ist alles andere als selbstverständlich. Schaut euch um in Europa: Franz und ich haben das gerade gesehen bei der SPE-Konferenz in Madrid. Wie groß die Verzweiflung ist bei denen – Ungarn, Griechenland, Italien – die jetzt noch mit hoher Verschuldung aus dem Aufschwung kommen. Dass wir hier in Deutschland nicht komplett an der Wand stehen, dass wir hier nicht auf das Prinzip Hoffnung beschränkt sind, das ist das Ergebnis unserer Politik. Wir können sagen: Wir Sozialdemokraten haben unser Land winterfest gemacht!

Polster und Puffer gibt es auch auf dem Arbeitsmarkt. Auch das ist kein Gottesgeschenk, sondern hat Gründe. Ich sage deutlich: Ohne die aktive Arbeitsmarktpolitik, ohne die vernünftige Tarifpolitik der vergangenen Jahre würden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Auswirkungen der Auftragsflaute schon sehr viel deutlicher spüren. Die Arbeitszeitkonten erweisen sich jetzt als ein Segen. Natürlich schützen sie nicht auf Jahre, aber viele Betriebe können Produktionspausen um Wochen oder sogar Monate überbrücken. Hier zeigt sich, dass die Tarifautonomie funktioniert – und wie sich die flexible und moderne Tarifpolitik der Gewerkschaften jetzt zum Wohl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auswirkt. Einen herzlichen Dank dafür auch an die Gewerkschaften, die das möglich gemacht haben!

Die SPD hat als Motor der Koalition auf die neue Lage rasch reagiert. Vor sechs Wochen habe ich an dieser Stelle beim Parteitag gesagt: Nach dem Rettungsschirm für die Banken müssen wir jetzt einen Schutzschirm für die Arbeitsplätze in Deutschland spannen. Und wir haben das in der Bundesregierung getan! Mit einem Paket zur Ankurbelung der Konjunktur, das schnell und wirksam auch Arbeitsplätze sichert!

Günstige Kredite für kleine und mittlere Unternehmen, für strukturschwache Kommunen, für energieeffiziente Sanierung von Gebäuden, bessere Abschreibungsbedingungen für Betriebe, schnellere Umsetzung von Verkehrsprojekten, Steuerabzug bei der Handwerkerrechnung – ihr kennt das Programm. Dazu die Senkung des Arbeitslosenbeitrags, die Erhöhung des Kindergelds, das Vorziehen der Wohngelderhöhung, die Absetzbarkeit des Krankenbeitrags. Auch wenn wir dieses erste Paket im Oktober beschlossen haben, als die Krise noch nicht in den Köpfen war, bleibt es dabei: Auch das stärkt Nachfrage! Alles zusammen wird im nächsten und übernächsten Jahr bis zu 50 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen freisetzen. Das wissen die allermeisten noch nicht. Deshalb, Genossinnen und Genossen: statt wochenlanges Palaver ob das schon reicht gegen die Krise, rat ich dringend, dass wir erst mal verbreiten, was wir erstritten haben. Wir müssen das den Menschen sagen. Die Schwarzen werden das für uns nicht erledigen!

Das ist das größte Konjunkturprogramm seit 30 Jahren in Deutschland. Das wird vielen Handwerksbetrieben, Bauunternehmen und Betrieben ganz konkret helfen. Und es wird viele Menschen anregen, eigenes Geld draufzulegen. Vielleicht reicht das am Ende nicht, wenn die Krise noch tiefere Spuren zieht. Aber wir haben allen Grund zum Selbstbewusstsein. Lassen wir uns doch, die wir seit 10 Jahren dieses Land wieder auf Vordermann gebracht haben, nicht von den Experten, die Konjunkturprogramme immer verteufelt haben, jetzt plötzlich erzählen, das alles sei nur ein Sammelsurium von Kleinigkeiten. Respekt hätte ich davor nur, wenn ihnen die plötzlich gewonnenen Weisheiten 6 Monate vor der Krise, nicht 6 Wochen nach der Krise gekommen wären.

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Und viele von denen sind noch immer auf dem falschen Trip! Manche von denen fordern, in einem Atemzug mit der CDU/CSU, Steuersenkungen. Ich will hier erst einmal zur historischen Wahrheit beitragen. Nie gab es so viele Steuererhöhungen wie in den 90er Jahren mit einer schwarz-gelben Regierung, die gleichzeitig immer Steuersenkungen forderte. Und nie wurden die Steuern und Abgaben so stark gesenkt wie bei uns mit Rot-Grün. Das ist die Wahrheit! Die Menschen haben bei uns mehr vom netto bekommen, sobald es Spielräume dafür gab und staatliches Handeln nicht beschädigt wurde. Das muss man wissen, wenn die Union und FDP jetzt wieder Steuersenkungen für die Zeit nach der Wahl fordern. Jeder weiß: Diese Forderung ist die Wählertäuschung von morgen.

Steuersenkungen zur Ankurbelung der Konjunktur sind aber in dieser Zeit ein falsches Mittel. Davon profitieren die hohen Einkommen am meisten, die niedrigen Einkommen kaum. Und die Millionen Rentner, die Arbeitslosen, die Hartz-IV-Empfänger gehen völlig leer aus. Die Hälfte der Menschen in Deutschland zahlt überhaupt keine Steuern. Steuersenkungen sind darum der unsozialste Ansatz.

Ich will das deutlich machen: Nicht nur Rentner und Arbeitslose zahlen bei uns keine Einkommensteuern, sondern auch Familienväter mit zwei Kindern sind bis zu 37.500 Euro im Jahr steuerfrei. Die zahlen Abgaben – für Gesundheit, Rente, Arbeitslosenversicherung. Und darum müssen wir Abgaben senken, wenn wir denen helfen wollen, die es nötiger haben als andere! Das ist der richtige Weg!

Steuersenkungen sind in dieser Lage auch ökonomischer Unfug. Denn diejenigen, die hohe Steuern zahlen, haben auch die höchste Sparquote. Die haben schon jetzt viel Geld auf ihren Konten. Und auffällig ist doch, dass jetzt wieder die Steuersenkungen fordern denen von Januar bis Dezember ohnehin nichts anderes einfällt, ob Krise oder nicht. Das ist nicht verantwortlich! Das ist Wahlgeplänkel.

Wer Steuersenkungen fordert, der zeigt, dass er die Zeitenwende dieses Jahres noch nicht im Geringsten verstanden hat. Steuersenkungen schwächen die Handlungsfähigkeit der Politik, auf die es gerade jetzt in der Krise besonders ankommt. Sie nehmen uns das Geld, das wir für Zukunftsaufgaben und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft brauchen. Ich will überall in Deutschland Schulen, in denen nicht der Putz von der Wand fällt. Ich möchte Physik- und Chemiesäle, in denen es unseren Kindern Spaß macht, zu lernen. Wir brauchen diese Kinder schon bald als Fachkräfte, als Forscher und Ingenieure. Ich möchte Sprachlabore in allen Schulen, damit unsere Kinder sich in einer Welt zurechtfinden, in der Fremdsprachen Horizonte erschließen. Schulen mit Toiletten, die unseren europäischen Vorstellungen von Hygiene entsprechen. Ich kenne andere!

Ich will euch klar sagen, was Steuersenkungen in dieser Situation am Ende bedeuten: weniger Lehrer, weniger Polizisten, weniger Sozialarbeit, weniger Jugendhäuser, weniger Busverbindungen auf dem Land. Aber es gibt auch mehr: mehr Schlaglöcher in den Straßen; mehr Einsamkeit, weil der Seniorennachmittag ausfällt; mehr Kinder, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Steuersenkungen sind falsch, wenn man die Konjunktur ankurbeln will. Sie sind aber besonders falsch, wenn man unsere Gesellschaft zusammenhalten und Deutschland in eine gute Zukunft führen will!
Das ist auch der Grund, warum ich heute die kommunalen Spitzenverbände zum Gespräch eingeladen habe. Die Kommunen werden im nächsten Jahr eine Schlüsselrolle haben. Städte und Gemeinden vergeben den Großteil der öffentlichen Aufträge. Die Lücke zwischen dem, was gebraucht wird, und dem, was die Kommunen bezahlen können, ist jedes Jahr mindestens 7 Milliarden Euro. Diese Lücke müssen wir jetzt schließen! Wir müssen Städte und Gemeinden in die Lage versetzen, Arbeit und gleichzeitig öffentliche Infrastruktur zu sichern und zu verbessern. Bund, Länder und Kommunen müssen hier gemeinsam ran! Auch weniger finanzstarke Gemeinden müssen investieren können. Da ist sicher die Kommunalaufsicht gefragt, aber auch neue Finanzierungsinstrumente. Wir brauchen einen kommunalen Investitionspakt von Bund, Ländern und Gemeinden.

Da müssen wir Kredite im Zweifelsfall auch mal ohne Zins und Tilgung vergeben. Und der Vorteil ist: Vieles könnte sofort losgehen, ohne umständliche europäische Ausschreibung! Es gibt so viel zu tun: Kindergärten, Schulen, Jugendhäuser, Begegnungszentren, Sportstätten. Spielplätze und öffentliche Grünanlagen, die nicht verlottern, sondern zum Hingehen einladen. Radwege, auf denen die Kinder sicher zur Schule kommen. Oft sind es ganz kleine Dinge, die den Zusammenhalt und das Vertrauen der Menschen in die Zukunft stärken. Gerade in der Krise müssen wir sie in Angriff nehmen!

Lasst mich an dieser Stelle auch einmal etwas zur CDU und CSU sagen. Bei denselben CDU-Ministerpräsidenten, die jetzt schnelle Steuersenkungen fordern, sind in den Landesbanken gerade erst Milliarden um Milliarden verzockt worden. Die Pleite der Landesbank hier in der Hauptstadt trägt die Namen der Granden aus der Berliner CDU. Aber das war nur ein Vorläufer!
Jetzt zahlen die Menschen auch im CDU-regierten Sachsen noch lange für Sünden ihrer Landesbank. In Bayern hat die CSU gerade wieder 10 Milliarden Steuergeld in ihre Landesbank gepumpt. Bei Jürgen Rüttgers sieht es auch finster aus. Die Helaba von Hessen-Thüringen hat Riesensummen in Österreich verspielt. Wenn all die Milliarden, die sich da unter den Augen der CDU- und CSU-Ministerpräsidenten in Luft aufgelöst haben, noch da wären – wir könnten alle Schulen dieses Landes davon sanieren und noch vieles dazu.

Und trotzdem will die Union jetzt Steuersenkungen, Konjunkturprogramme, aber natürlich auch Haushaltskonsolidierung. Alles gleichzeitig. Was ist das für ein Hühnerhaufen! Ich kann nur sagen: Die Union hat ihren Kredit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik verspielt. Wir sind da längst besser, nicht nur dank Peer Steinbrück. Peer, die großen Finanzminister dieses Landes waren Sozialdemokraten, und du stehst in dieser Reihe! Aber auch unsere Finanzminister in Rheinland-Pfalz, in Brandenburg und Berlin. Und darum sage ich hier sehr selbstbewusst: Wir, die SPD, wir haben mehr Finanz- und Wirtschaftskompetenz in unseren Reihen als die Union!

Wenn 2008 das Jahr der Zeitenwende war, dann wird 2009 zum Jahr der Bewährung. Wir müssen die Menschen jetzt sicher durch die schwierige Zeit lotsen. Und wir müssen, wo immer es möglich ist, die Krise als Chance begreifen. Modernisieren in der Krise! Strategisch und langfristig vernünftig handeln, nicht hektisch und populistisch. Das ist unsere Aufgabe!

Wir haben jetzt ein historisches Fenster, das nur kurze Zeit offen steht. Eine Zeit, in der wir Weichen stellen: zu Hause und in der Welt. Auf die Globalisierung der Märkte muss jetzt die politische Globalisierung folgen! Und ich möchte, dass Deutschland dabei den Takt mitbestimmt, dass wir uns aktiv einbringen. Wir müssen zum Mitgestalter der neuen Ordnung werden, nicht zum Mitläufer! Darin besteht unsere Verantwortung! Wir müssen vorangehen, aber nicht mit nationalen Alleingängen, sondern eng abgestimmt mit den wichtigen Akteuren in Europa und darüber hinaus. Nur wer jetzt mitmacht und Führung wagt, der wird im internationalen Konzert gehört. Auch das ist der Grund, warum ich den Europäischen Zukunftspakt für Arbeit vorgelegt habe. Wer eine bessere, gerechtere Weltwirtschaftsordnung will, der darf sich jetzt nicht ins nationale Schneckenhäuschen zurückziehen!

Jetzt aber können wir den Rahmen neu gestalten. Gemeinsam in Europa, mit den USA und anderen. Wir müssen eine Weltwirtschaftsordnung schaffen, die den Kapitalismus einhegt. Eine Ordnung, die nicht allein nach der kurzfristigen Rendite tickt, sondern die nachhaltig und mit solidarischen Elementen versehen ist. Eine Ordnung, in der der Ehrliche nicht der Dumme ist. Und: Wer soll diese Ordnung herstellen, wenn nicht wir Sozialdemokraten?

Bei den Marktradikalen bestand wirtschaftliche Ordnungspolitik immer aus einem übersichtlichen Rezept: Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht, der Staat hat sich raus zu halten, das freie Spiel der Kräfte ist das beste Regulativ. Das war falsch, gründlich falsch, wie wir jetzt sehen. Und darum brauchen wir etwas Neues. Eine Ordnungspolitik, die ihren Namen verdient. In der die Politik auf den Märkten wieder Ordnung schafft. In der sie stärker als bisher Recht und Ordnung garantiert, in der unsere Zukunft nicht mit Derivaten verramscht wird. In der wir Arbeitsplätze und auch Unternehmen schützen, wenn sie unverschuldet in Not geraten sind und eine gesunde Substanz haben. Das ist Ordnungspolitik, wie wir sie für notwendig halten! Und dabei, liebe Leute, keine falsche Arbeitsteilung! Ich wiederhole, was ich auf dem Parteitag im Oktober gesagt habe: Wirtschaft, das ist nicht Sache der anderen. Es sind unsere Leute, die erwarten, dass wir uns darum kümmern.

Und ich treffe auf Manager und Unternehmer, die sagen: Lasst uns aus den ideologischen Gräben steigen und gemeinsam tun, was notwendig ist. Die sagen: Die Erotik der Maximalrendite von 25 Prozent ist von gestern. Lasst uns lieber über die Ethik der Wirtschaft von morgen reden. Über Verantwortung, über nachhaltiges Wirtschaften. Über eine Wirtschaft, die sich wieder als Teil der Gesellschaft versteht. Diese Leute, die so denken, sind unsere Partner. Das ist für uns Sozialdemokraten eine Chance. Eine Riesenchance, die wir ergreifen müssen!

Eine Konsequenz aus der Zeitenwende, die wir erleben, ist für mich bei aller Vorsicht offenkundig. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Markt und Staat. Nein, ich meine nicht die Rückkehr zu ganz altem Denken. Der Staat kann nicht alles. Und vor allem: Der Staat ist kein Selbstzweck, ebenso wenig wie der Markt. Beides ist notwendig zur Organisation von Gesellschaft, und beides wird gebraucht. Aber da, wo Marktversagen ganze Systeme ins Wanken bringt, da ist der Staat auf eine Weise gefordert, wie wir das lange nicht erlebt haben. Wir haben das diesen Herbst beim Rettungsschirm für die Banken gesehen. Ich will, dass der Staat entschlossen handelt, wenn es notwendig wird, mit Augenmaß, aber auch zupackend und mit Mut, wenn es ernst wird! Das ist sozialdemokratische Politik!

Die SPD hat für das nächste Jahrzehnt eine Mission: Wir wollen eine nachhaltige, wachstumsstarke Solidargesellschaft. Eine Gesellschaft, die anknüpft an das Modell Deutschland von Helmut Schmidt und Willy Brandt, aber zu den Bedingungen der neuen Zeit. Das Modell Deutschland – das war Politik für eine Gesellschaft, die leistungsfähig, sozial, modern und gerecht war. In der das Prinzip Verantwortung ganz oben stand, nicht das Prinzip Las Vegas. In der sich niemand aus der Grundsolidarität verabschieden konnte. Ich finde, diese Prinzipien sind unverändert richtig!

Und sie sind ein Fundament für unsere Vorstellung von Solidargesellschaft. Diese Gesellschaft wollen wir schaffen, und nicht nur über den Export von Konzepten fabulieren. Wir müssen gemeinsam mit anderen handeln. Mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, der den Mentalitätswechsel in den USA nicht nur verkörpert, sondern in kraftvolle Politik umsetzen wird. Gemeinsam handeln auch mit den Regierungen Frankreichs, Großbritanniens, mit China und Russland! Gegen Protektionismus, für offene Märkte, aber für offene Märkte mit gemeinsamen Regeln! Darum geht es!

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Wir haben ein strammes Arbeitsprogramm für die neue Weltwirtschaftsordnung. Banken sollen nicht länger auf Kredit spekulieren, sondern die Realwirtschaft finanzieren, ohne Möglichkeit, Milliardenrisiken zu vertuschen oder zu verschieben. Da sind wir dran! Unternehmen müssen künftig wieder an ihrem langfristigen Erfolg gemessen werden. Das funktioniert, wenn Manager nach diesem Prinzip bezahlt werden. Geld verdienen ist in Ordnung, aber nur der soll es bekommen, der die Substanz des Unternehmens vermehrt und der begreift, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine Kostenstellen sind, sondern das wichtigste Kapital! Auch deshalb muss Staat Strukturen erhalten. Dort wo einzelne Branchen besonders unter Druck stehen, wie in der Auto- und Chemieindustrie.

Und wir brauchen einen neuen globalen Gesellschaftsvertrag. Ökologie und Nachhaltigkeit, eine Strategie weg von Öl und anderen fossilen Energien, hin zu sparsamer Verwendung von Ressourcen und zu erneuerbaren Energien. Der Abschied vom Öl, er ist eine historische Chance gerade auch für unser Land. Weil wir bei erneuerbaren Energien dank einer klugen Politik, begonnen unter Rot-Grün, an der Weltspitze sind. Mit aller Kraft haben Union und FDP unser Energieeinspeisegesetz damals bekämpft. Und heute? Da ist dieses Gesetz ein Exportschlager! 40 Länder haben es von uns übernommen. Alles Länder, in die wir jetzt Solarzellen, Windräder oder Anlagen für Biomasse exportieren!

Krisen verändern Märkte. Der Kampf um den nächsten Aufschwung wird auf den Märkten der Zukunft gewonnen. Und die grünen Märkte sind Märkte der Zukunft. Deshalb: Alle Kraft in neue Produkte, die weniger Energie verbrauchen, die aus neuen Materialien produziert werden statt aus teuren Rohstoffen. Diesen Weg müssen wir jetzt in Deutschland gehen. Mit den USA, verstärkt durch eine koordinierte Anstrengung in Europa und gemeinsam mit den aufstrebenden Mächten in Asien! So entsteht ein machtvoller Schub für nachhaltiges Wachstum – weltweit. Das ist unsere sozialdemokratische Aufgabe der nächsten Zeit! Und Sigmar Gabriel wird uns für unser Wahlprogramm die richtigen Konzepte liefern!

Aber es geht nicht nur um ökologische Politik. Wir Sozialdemokraten stehen wie keine andere Partei auch für eine soziale Politik. Das heißt für mich: Bildung und Integration ganz nach oben auf der Prioritätenliste! Gerade jetzt in der Krise!
Aber nicht ausschließlich. Denn wir streiten auch für soziale Rechte, zum Beispiel für den Mindestlohn. Wer den ganzen Tag arbeitet, der muss sich und seine Familie davon ernähren können! Für diesen Grundsatz kämpfen wir bei uns in Deutschland, gegen Konservative und Liberale. Und ich frage mich: Wie kann man tatenlos zusehen, dass Hunderttausende Väter und Mütter abends müde von der Arbeit kommen und dennoch auf staatliche Unterstützung angewiesen sind? Welchen Leistungsbegriff sollen diese Väter und Mütter ihren Kindern eigentlich mitgeben? Wir werden uns mit diesem Zustand nicht abfinden! In Deutschland nicht, aber auch in anderen Teilen der Welt nicht, in denen Menschen für Hungerlöhne arbeiten, weit weg von ihren Familien. Wir brauchen Mindestlöhne. Jetzt erst recht!

Und eine Schlüsselrolle bei diesem Projekt spielt Europa. Die Menschen spüren, dass 27 EU-Staaten viel stärker sind als jeder einzelne allein. Wir brauchen in Europa jetzt eine neue Qualität von koordiniertem Handeln. Ich bin manchmal erstaunt, wie rasend schnell sich die Ansichten in Europa verändern. Der französische Präsident hat sich gerade vor dem Europäischen Parlament selbst gefragt: „Bin ich ein Sozialist? Vielleicht.“ Nicolas Sarkozy, der Mann der Konservativen in Frankreich! So weit geht die CDU-Vorsitzende in Deutschland noch nicht. Aber auch hier tut sich was. Wolfgang Schäuble hat jetzt empfohlen, man müsse mal wieder bei Keynes nachlesen, was richtig ist.

Ist das nicht interessant? Ich stelle mir vor, wie Maggie Thatcher gerade angewidert von ihrem Alterssitz auf die endlose Schlange all derjenigen guckt, die vom Glauben abfallen, die zum rettenden Ufer auf der anderen Seite rennen. Die Huldigungszüge zu den Vordenkern des grenzenlosen Wettbewerbs werden umgeleitet. Reumütige Expertenbesuche am Grab von Keynes wollen nicht abreißen!

Und ich sage all denen, die da gerade herumirren: Ihr seid auf der richtigen Spur, aber noch nicht ganz am Ziel. Denn Keynes würde heute ein anderes Buch schreiben als vor 70 Jahren. Er würde sagen, dass nationale Volkswirtschaften, anders als damals, heute viel zu klein sind, um allein einen Weg aus der Krise zu finden. Er würde uns heute sagen: Handelt europäisch! Stimmt euch auch mit den Amerikanern ab! Und redet mit den Chinesen! Die globale Konjunktur kann sich nur erholen, wenn dabei alle in die gleiche Richtung marschieren!

Deshalb war der Weltwirtschaftgipfel richtig. Und: Darum war ich vor einer Woche beim Kongress der Sozialdemokratischen Parteien Europas in Madrid und habe meinen Neun-Punkte-Plan für Beschäftigung dort vorgestellt. Gemeinsam mit Franz Müntefering und Martin Schulz. Das war ein gutes, ein wichtiges Signal. Weil die anderen Sozialdemokraten in Europa gesehen haben, dass wir vorangehen, uns beteiligen, aktiv mitmischen und eine europäische Antwort geben. Das zeigt: Wir nehmen unsere Verantwortung an, wir laufen nicht mit, wir gestalten!

Viel war in den vergangenen Monaten vom Scheitern Europas die Rede. Jetzt kommt es umgekehrt. Wenn wir klug sind, dann schlägt gerade jetzt die Stunde Europas. Weil die Menschen jetzt begreifen, wie wichtig Europa im Ernstfall für sie ist. Wie gut es ist, dass wir heute eine gemeinsame starke Währung haben. Und wie wichtig es ist, dass die richtigen Leute in Brüssel sitzen – diejenigen, die Verantwortung für Arbeitsplätze und Arbeitnehmer fühlen, nicht nur für freie Märkte und für Statistiken.

Lieber Martin Schulz, Europa und die europäische Sozialdemokratie verdanken dir und deiner Gabe für klare Aussprache sehr viel. Wenn jemand das Europäische Parlament aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat, dann bist du das gewesen. Du hast Europa politisiert, wo vorher bürokratisches Kauderwelsch das Wesentliche vernebeln sollte. Und Du bist auch der Mann, der das soziale Europa voranbringen kann!

Für die nächste Europawahl haben wir mit dir an der Spitze ein klares Ziel und eine einfache Botschaft. Das soziale Europa entsteht nur dann, wenn möglichst viele soziale Europäer im Parlament und in der EU-Kommission sitzen. Das werden wir den Menschen sagen. Und dafür werden wir gemeinsam kämpfen, mit aller Kraft!

Das nächste Jahr wird für uns alle ein Jahr der Bewährung. Auf uns warten nicht nur große, sondern auch schwere Aufgaben. Wir werden Mut und Vernunft brauchen und einen klaren Blick. Ich möchte, dass wir langfristige, strukturell wirksame Lösungen suchen, mit dem Blick nicht nur für die Wirkungen, sondern auch für die Nebenwirkungen. Überlegt statt überhastet, konzentriert statt fahrig. Dass wir Maßnahmen ergreifen, die wirklich helfen.

Das kann auch bedeuten, dass man Geld dafür in die Hand nehmen muss. Und ich sage euch: Was notwendig ist, werden wir verantworten. Wir reden in diesen Tagen nochmals intensiv nicht nur mit den Kommunen, auch mit den unterschiedlichsten Branchen der Wirtschaft. Wir müssen mit jedem Euro verantwortlich umgehen. Wir haben nicht beliebig viele Schüsse frei. Wahrscheinlich sogar nur einen. Dieser Schuss muss sitzen. Und deshalb sollten wir zügig handeln, aber vorher nachdenken. Nicht dem erstbesten Vorschlag folgen, nur weil er in die Vollen greift. Mich beeindrucken nur Vorschläge, die drei Kriterien gerecht werden. Und die heißen: Arbeit, Arbeit, Arbeit!

Wir werden um jeden Arbeitsplatz kämpfen. Wir werden da, wo es Entlassungen gibt, Brücken bauen. Mit mehr Vermittlern in den Arbeitsagenturen, schließlich haben wir zur Zeit noch eine Million offene Stellen. Mit bis zu 18 Monaten Kurzarbeitergeld, mit mehr Angeboten für Weiterbildung und für das Nachholen eines Schulabschlusses. Olaf Scholz hat da in den letzten Wochen ganze Arbeit geleistet, und nächstes Jahr wirst du als Arbeitsminister wie kaum ein Zweiter gebraucht, lieber Olaf!

Aber wer in Zeiten, wo die Ungewissheit wächst, kluge Politik machen will, der darf nicht nervös handeln. Der darf auch nicht taktisch handeln. Wer nur auf den kleinen Vorteil von morgen, auf die gute Schlagzeile des nächsten Tages schaut, der verliert den Überblick. Das darf uns und das wird uns nicht passieren!

Wir stellen uns auf eine längere Rüttelstrecke ein. Auf Wendungen und Überraschungen, die wir heute noch nicht kennen. Der Kampf um Beschäftigung, der Kampf um eine gute Ausgangsbasis für den nächsten Aufschwung wird kein 100-Meter-Lauf, er wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Marathonlauf. Und wer 42 Kilometer vor sich hat, der sollte sich seine Kräfte einteilen. Wohl überlegt.

Und was für das Land gilt, das gilt auch für uns in der SPD. Kraftvoll handeln, in jeder Phase gut vorbereitet sein für Zwischenspurts, aber auch sein Pulver trocken halten. Und Nerven behalten. Es ist nicht wichtig, wer in den Umfragen im Dezember 2008 vorne liegt. Abgerechnet wird im nächsten Jahr!

Bei den Europawahlen im Juni kämpfen wir gemeinsam, Hand in Hand mit den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in ganz Europa.

Und dann werden wir kämpfen, dass wir im September 2009 vorne liegen. Schwarz-Gelb ist das Modell von gestern. Die Konservativen und Marktradikalen wissen das selbst. Ihr Programm: Steuersenkungen, schwacher Staat, freies Spiel der Märkte – das ist eine Vorstellung von der Welt, die gerade krachend gescheitert ist.

Unser Entwurf, das Wahlprogramm, das wir in den kommenden Monaten gemeinsam erarbeiten, wird sich davon unterscheiden. Es wird einen Kompass haben. Wir haben den Karren, den uns die Schwarzen und Gelben vor zehn Jahren übergeben haben, wieder aus dem Dreck gezogen. Wir haben unser Land wieder stark gemacht. In den nächsten zehn Jahren geht es jetzt darum, dass dieses Land stark bleibt und noch stärker wird. Mit einem neuen Gesellschafts- und Generationenvertrag, bei dem das erste Gebot heißt: Menschen für Menschen. Mit einem Zukunftspakt, der auf einer weitsichtigen Politik gründet, die nicht auf kleine Schritte setzt, sondern die wirklich gestalten will. Die unser Land nicht in Gruppen und Grüppchen einteilt, sondern einbindet und Kräfte bündelt. Eine Politik, die die Hand ausstreckt, die auch fordert, aber nicht nur mit dem Finger auf andere zeigt!

Ich will, dass wir in Deutschland den Geist der Gemeinsamkeit, der uns stark gemacht hat, wieder stärker wecken. Mit denen, die verantwortungsvoll handeln in der Wirtschaft, mit den Gewerkschaften, und mit den vielen in der Gesellschaft, die jeden Tag machen statt meckern. Das ist die Aufgabe unserer Partei im nächsten Jahrzehnt! Das ist unsere Verantwortung!

Es ist ein sozialdemokratisches Jahrzehnt, das gerade anbricht, da bin ich sicher. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass wir dieses Jahrzehnt auch gestalten. Denn es gibt etwas, das uns dabei aufhalten kann. Das ist die Beschäftigung mit uns selbst, innerparteiliches Gezänk, das Schielen auf den kurzfristigen kleinen Vorteil. Manches davon hat uns in diesem Jahr begleitet und geschadet.

Und darum sage ich: Machen wir uns bewusst, dass wir jetzt eine Aufgabe haben, die größer ist als die Delegiertenzahl beim nächsten Parteitag. Es ist die Aufgabe, diesem Land das Vertrauen in sich selbst und in seine Kräfte zu geben. Es geht darum, dass wir für Deutschland und Europa unter völlig veränderten Bedingungen eine gute Zukunft schaffen. Für ein Land und ein Europa, das eine soziale Politik macht, auch wenn die Zeiten schwierig werden. Für eine Gesellschaft, in der die Starken den Schwachen helfen und in der wir den Schwachen helfen, stark zu werden. Für eine Politik, die mit ganzer Kraft für Frieden und Verständigung arbeitet. Für eine lebendige Demokratie, weil das der beste Immunschutz gegen Populisten und Radikale ist. Dafür werden wir Sozialdemokraten gebraucht! Dafür kämpfen wir im nächsten Jahr! Das war seit 150 Jahren unsere historische Mission, und sie ist noch lange nicht zu Ende!

Lasst euch nicht bange machen von den Umfragen. Der Zeitgeist des Jahres 2009 – der wird sozialdemokratisch. Der Mantel der Geschichte weht in rot. Das spüren und sehen die Konservativen und Liberalen, und darum laufen sie gerade so orientierungslos umher, auf der Suche nach dem verlorenen Kompass. Wir haben diesen Kompass, liebe Genossinnen und Genossen. Und darum kommen wir ans Ziel! Und zwar nicht irgendwann, sondern als erste! Ran an die Arbeit. Jetzt erstmal gemeinsam mit Martin Schulz!

Herzlichen Dank!

Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Parteivorstand
Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin
Telefon (030) 25991-300, FAX (030) 25991-507

Herausgeber: Hubertus Heil
Redaktion: Stefan Giffeler

e-mail: pressestelle@spd.de
Internet: www.spd.de

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