Die Verwaltungsgerichtsordnung sieht in § 93a die Möglichkeit vor, dass Verwaltungsgerichte sog. Musterverfahren durchführen und die übrigen gleichgearteten Verfahren aussetzen. Ist das Musterverfahren entschieden, hat das Gericht die Möglichkeit die Erkenntnisse aus den Musterverfahren den Beteiligten der ausgesetzten Verfahren entgegengehalten. Die Beteiligten der ausgesetzten Verfahren befürchten daher häufig Nachteile, weil sie im Musterverfahren i.d.R. nicht gehört werden. Der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat sich am 21. Februar 2012 mit der Frage auseinandergesetzt, wie mit diesen befürchteten Nachteilen umzugehen ist. Die Entscheidung: Die Beteiligten der übrigen und ausgesetzten Verfahren haben keinen Anspruch im Revisionsverfahren beigeladen zu werden; ihre Rechte seien in den Nachverfahren ausreichend gewährleistet. ilex erklärt die Hintergründe der Entscheidung und die Auswirkungen auf Großverfahren im bau- und umweltrechtlichen Bereich.
1. Das Musterverfahren i.S.v. § 93a VwGO
Große Infrastrukturprojekte werfen häufig die Frage auf, ob wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten einerseits oder gefahrenabwehr- und umweltrechtlichen Aspekten andererseits der Vorrang gebührt. Dieser natürliche Zielkonflikt entlädt sich zumeist in Bürgerprotesten, Diskussionsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und zuletzt auch in Streitigkeiten vor dem Verwaltungsgericht. In diesen Fällen klagen meist eine Vielzahl von betroffenen Anlegern, Verbänden, ggf. sogar Kommunen gegen das Vorhaben.
Um dieser Prozessflut identischer Rechtsfälle gerecht zu werden, hat die Verwaltungsgerichtsordnung das Instrument der Musterverfahren geschaffen, vgl. § 93a VwGO. Hiernach gilt: Ist die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme Gegenstand von mehr als zwanzig Verfahren, kann das Gericht eines oder mehrere geeignete Verfahren vorab durchführen (Musterverfahren) und die übrigen Verfahren aussetzen.
Ist über die durchgeführten Verfahren rechtskräftig entschieden worden, kann das Gericht nach Anhörung der Beteiligten über die ausgesetzten Verfahren durch Beschluß entscheiden, wenn es einstimmig der Auffassung ist, daß die Sachen gegenüber rechtskräftig entschiedenen Musterverfahren keine wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen und der Sachverhalt geklärt ist, vgl. § 93a Absatz 2 Satz 1 VwGO. Ferner hat das Gericht die Möglichkeit, auf die Beweisaufnahme des Musterverfahrens zurückzugreifen. Alternativ kann das Gericht aber auch ein „normales“ verwaltungsgerichtliches Verfahren durchführen. Die Entscheidung hierüber obliegt dem Gericht.
Diejenigen, die nicht am Musterverfahren beteiligt und deren Verfahren ausgesetzt sind, werden also zunächst zu Zaungästen. Ihnen stehen keine Rechte im Musterverfahren zu. Oftmals befürchten sie daher, dass die Beteiligten der Musterverfahren durch eine schlechte Verfahrensführung ihre Chancen verringern.
2. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
In diesen Problembereich fällt die Entscheidung des 4. Senates. In der Entscheidung heißt es:
„Die Kläger haben neben einer Vielzahl anderer klagender Kommunen, Unternehmen und Privatpersonen Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 18. Dezember 2007 für den Ausbau des Flughafens Frankfurt Main erhoben. Von diesen Verfahren hat der Verwaltungsgerichtshof insgesamt zwölf Verfahren – unter anderem dasjenige der Kläger – als Musterverfahren vorab durchgeführt und die restlichen Klageverfahren gemäß § 93a Abs. 1 Satz 1 VwGO bis zum rechtskräftigen Abschluss der Musterverfahren ausgesetzt. Soweit die Kläger mit ihrer Klage in erster Instanz unterlegen sind, haben sie neben anderen Musterklägern Revision eingelegt.
Mit Schriftsatz vom 14. Februar 2012 haben Kläger, deren Verfahren ausgesetzt worden sind, beantragt, im vorliegenden Revisionsverfahren beigeladen zu werden. Hilfsweise wollen sie sichergestellt wissen, dass sie die Möglichkeit erhalten, von ihrem Recht auf „passive“ Teilnahme an der mündlichen Verhandlung im Revisionsverfahren Gebrauch zu machen, indem ein entsprechend großer Verhandlungsraum gewählt oder die Verhandlung audiovisuell in einen oder mehrere geeignete Räume übertragen wird.“
Das Bundesverwaltungsgericht hat nun entschieden, dass es für eine Beiladung keine Rechtsgrundlage gebe. In der Revision können nur Betroffene, die unter die notwendige Beiladung fallen, beteiligt werden, § 142 Absatz 1 VwGO. Im Übrigen deutet der Senat an, dass eine Beiladung der ratio des Musterverfahrens widersprechen würde.
Dem steht auch nicht Art. 103 Absatz 1 GG und der darin enthaltende Anspruch auf rechtliches Gehör und auch nicht Artikel 19 Absatz 4 GG und der darin enthaltenden Garantie auf effektiven Rechtsschutz entgegen. Denn diese verfassungsrechtlichen Vorgaben müssten die Gerichte bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, ob sie das vereinfachte Nachverfahren nach § 93a Absatz 2 VwGO oder das „normale“ Verfahren wählen.
3. Konsequenzen für künftige große Infrastrukturprojekte
Investoren, die öffentliche Hand, Anwohner und Verbände eint bei großen Infrastrukturprojekten stets eine Sorge: Die Rechtsunsicherheit. Vor diesem Hintergrund sind Musterverfahren künftig noch häufiger zu erwarten.
Vordergründung könnte man meinen, die Entscheidung ist für Investoren und Gemeinden ein positives Signal, denn sie können somit „ungestört“ Musterverfahren führen und schnell Rechtssicherheit erreichen. Dies ist aber nur der Vordergrund. Hintergründig wird man bedenken müssen, dass Verbände, Anwohner und sonstige Kläger das Bundesverwaltungsgericht beim Wort nehmen und ein „normales“ Nachverfahren anstelle eines vereinfachten Nachverfahrens verlangen werden. Dadurch werden alle Vorteile des Musterverfahrens, die Investoren und Gemeinden erreichen könnten, in machen Fällen relativiert.
4. Fazit
Insgesamt zeigt die Entscheidung, dass Rechtsstreitigkeiten um Infrastrukturprojekte weiterhin auf hohem Niveau, sowohl was Quantität als auch was Qualität betrifft, geführt werden. Ein proaktiver Ansatz, der diese Streitigkeiten vermeidet oder zumindest entschärft, kann sich hier lohnen. Selbstverständlich gestaltet sich dies bei Großprojekten wie dem Frankfurter Flughafen schwierig. Doch bei der örtlichen Umgehensstraße sieht dies schon gänzlich anders aus.
Dr. Stephan Gärtner
Rechtsanwalt