WESTERWELLE-Gastbeitrag für „Die Welt“: Vergesst die Mitte nicht

Berlin (pressrelations) –

WESTERWELLE-Gastbeitrag für „Die Welt“: Vergesst die Mitte nicht

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende und Vizekanzler DR. GUIDO WESTERWELLE schrieb für „Die Welt“ (heutige Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag.

OHNE MITTE GIBT ES KEINEN SOZIALSTAAT

Vor genau zwei Wochen habe ich an dieser Stelle dazu aufgerufen: Vergesst die Mitte nicht. Dass die Debatte seitdem so intensiv, andauernd und emotional geführt worden ist, beweist eines: Diese Diskussion ist in Deutschland überfällig und leider alles andere als selbstverständlich. Ein Land, das mehr über Verteilungsgerechtigkeit redet als über Leistungsgerechtigkeit, wird die Grundlage des Wohlstands für alle verlieren.

Ich habe tausende von Zuschriften bekommen, mit vielen Bürgern diskutiert und mir auch die Anliegen und die Kritik von Betroffenen angehört, die auf den Sozialstaat angewiesen sind. Eines kann ich feststellen: Die Unzufriedenheit über das System der Sozialstaatsbürokratie ist groß. Enttäuscht sind Arbeitslose, die auch nach dutzenden Bewerbungen für sich immer noch keine Chance sehen. Enttäuscht sind aber auch viele, die arbeiten und trotzdem nicht mehr haben, als wenn sie nicht arbeiten würden.

Vor genau einer Woche, am vergangenen Donnerstag, haben wir es von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schriftlich bekommen: Deutschland bietet Arbeitslosen zu wenig Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Steuern und Abgaben machen gerade mäßig entlohnte Arbeit unattraktiv. Und deshalb hat die Regierungskoalition beispielsweise vereinbart, die Hinzuverdienstregelungen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende deutlich zu verbessern und das Schonvermögen zu verdreifachen.

Mindestens ebenso wichtig wie die praktischen Reformen durch die Politik ist aber ein Sinneswandel. Dafür war die Debatte der letzten zwei Wochen ein erster Schritt. Die Mitte in unserem Land, die erst einmal erwirtschaften muss, was andere hier in Berlin so gerne verteilen wollen, ist durch die Debatte dahin gerückt, wo sie hingehört: ins Zentrum der Diskussion. Endlich wird bei uns auch wieder über die gesprochen, die den Staat, auch den Sozialstaat, bezahlen. Denn es gibt keine „Staatsgelder“. Es gibt nur Geld von jenen, die Steuern und Abgaben zahlen, also von Bürgern und Betrieben.

Wie immer, wenn man eine Debatte anstößt, die der politischen Korrektheit nicht entspricht, gibt es am Anfang Empörung und Protest. Wenn die Kritiker dann sehen, dass diese Debatte bei einer sehr großen Mehrheit der Bevölkerung ebenfalls als notwendig und angemessen angesehen wird, konzentrieren sie sich auf die Tonalität. Nach der Methode: Er hat ja eigentlich recht, aber so deutlich muss er es doch nicht sagen. Als ob es ohne Klartext diese notwendige Debatte überhaupt gegeben hätte. Genau von denen, die mich wegen meiner angeblich ungebührlichen Wortwahl hier in der „Welt“ kritisiert haben, wurde ich im Laufe dieser Tage wahlweise als Esel oder Pferd, als Nero oder Caligula, als Rowdy oder Brandstifter kritisiert. Und als schließlich auch die Opposition erkannte, dass Leistungsgerechtigkeit eigentlich gerade ein Thema für die Bezieher von kleineren und mittleren Einkommen ist, wurde man als letztes Argument in die rechte, ja sogar braune Ecke gestellt. Wie weit muss man ei gentlich der Linkspartei hinterhergerutscht sein, dass man Leistungsgerechtigkeit für rechtsradikal hält?

Ich bleibe dabei: Leistungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit bedingen einander. Und deswegen brauchen wir einen treffsicheren Sozialstaat. Wir zahlen alle gerne Steuern für Bedürftige, aber eben nicht für Findige. Und wir wollen, dass das Geld der Steuerzahler bei den Bedürftigen auch wirklich ankommt. Deswegen ist meine Kritik keine gewesen, die sich gegen Menschen wendet, die es schwer haben, ihr Schicksal zu meistern. Es ist und bleibt eine Kritik am bisherigen System der Sozialstaatsbürokratie.

45 Milliarden Euro haben wir vergangenes Jahr für Hartz IV ausgegeben. Obwohl wir heute 1,5 Millionen Arbeitslose weniger haben als im Jahr 2004, sind es trotzdem 6,5 Milliarden Euro mehr als damals. Die Debatte über die Zukunft des Sozialstaates ist übrigens auch eine Debatte über Ethik und Moral in der Wirtschaft. Missbrauch gibt es auf beiden Seiten. Wenn Firmen lieber Regelungen des Sozialstaats nutzen, als reguläre Arbeitsplätze zu schaffen, dann ist auch das ein Missbrauch.

Zu Beginn des letzten Jahrzehnts stand Deutschland bei internationalen Wohlstands-Vergleichen auf Rang 11. Heute ist Deutschland auf Platz 26. In Europa lag Deutschland vor zehn Jahren auf Rang 9, heute noch auf Rang 14. In zehn Tagen werde ich nach Südamerika reisen. Dort kann man, beispielsweise in Brasilien, genau besichtigen, welche Dynamik eine Gesellschaft entfaltet, die konsequent auf die Bildung ihrer Jugend und auf den Aufbau einer starken Mittelschicht setzt. Im Zeitalter der Globalisierung ist dies ein Rezept für langfristigen Erfolg. Wer die Mitte preisgibt, verspielt die Zukunft. Dies gilt global – und erst recht bei uns.

Deutschland sollte rechtzeitig und klug umsteuern. Richtig ist: Arm wird ein Land, das seine Mitte verliert. Ohne starke Mitte steigt Deutschland ab. Das ist es, was ich verhindern will. Dem dient diese Debatte. Aus den Schlagzeilen mag sie verschwinden. Fortgeführt werden muss sie.

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