Wir müssen Zukunft!

Wir sehen uns regional, national und global unzähligen Krisen gegenüber. Sie aufzuzählen ist müßig. Man kennt sie und die Menschen lernen mit ihnen zu leben, auch ohne sie wirklich zu akzeptieren. Die gravierendste und nachhaltigste aller Krisen ist der alles beeinflussende weltweite Klimawandel. Sind wir nicht in der Lage – und das sind wir aus unterschiedlichen Gründen nicht – diesen Wandel positiv innerhalb des notwendigen Zeitrahmens zu beeinflussen, werden alle anderen Krisen sich als nachrangig oder gar nichtig erweisen.

Seit den ersten Anzeichen menschlicher Zivilisation endeten Krisen und Konflikte in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Geschichte ist voll von heroischen Siegen, die sich letztlich als Niederlagen erwiesen.

Menschen, ja ganze Völker haben sich immer wieder formale Strukturen gegeben, die für sie als Richtlinie zur Gestaltung der Zukunft als Maßstab galten. Auch heute, im 21 Jahrhundert, gibt es viele unterschiedliche Formate, die sich Menschen und Nationen auferlegt haben. Auch heute führen diese unterschiedlichen Formate zu Krisen und Konflikten, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen endeten oder noch enden werden. Als Ergebnis folgen wie in den vergangenen Jahrhunderten Tod, Elend und Verwüstung.

Der Unterschied zu vergangen Jahrhunderten ist gravierend. Während in der Vergangenheit gewalttätige Auseinandersetzungen regelmäßig von Staatsoberhäuptern jeglicher Art ausgingen, bestimmen heute global agierende Unternehmen den Verlauf des Weltgeschehens.

Die Reaktion darauf muss sein, dass wir uns erlauben, die derzeitigen Systeme zu hinterfragen. Es gilt, ein neues Format zu entwickeln. Eine global wirkende Struktur, die einerseits in der Lage sein wird, die derzeitigen Krisen und Konflikte aufzulösen und unter Berücksichtigung aller weltumspannenden Gegebenheiten ein humanes Miteinander innerhalb einer variablen Biodiversität sichert.

Am Beispiel Deutschland möchte ich zunächst Ursache und Auswirkung deutlich machen. Deutschland, weil ich in diesem Land kultiviert wurde.

So haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes etwas dabei gedacht, als sie sich am 23. Mai 1949 für die repräsentative Demokratie entschieden haben. Menschenwürde und sozialer Friede sind die Charaktereigenschaften dieses Grundgesetzes. Die Themen Umwelt und Klima waren zu der Zeit noch keine Begriffe. Sicherlich wären diese Themen sonst damals im Grundgesetz verankert worden.

Aus heutiger Sicht müssen, 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, in einer Zeit in der Krisen weiter zunehmen, grundsätzliche Fragen gestellt werden. Was und/oder wen repräsentieren in Deutschland die Gesetzesvertreter? Hat die konkrete Konzeption des Grundgesetzes tatsächlich wenig mit der Entwicklung einer stabilen Demokratie zu tun? Geht diese Stabilität lediglich auf die wirtschaftliche Prosperität der Nachkriegszeit zurück? Reichten rechtliche und politische Rahmenbedingungen aus, um eine menschenwürdige Existenz für jeden hier in Deutschland lebenden Menschen zu gewährleisten?

Am 27. Oktober 1994 wurde mit dem neugeschaffenen Artikel 20a auch der Umweltschutz als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen. Somit stellt sich die Frage, wie sind wir bis heute mit dem Wissen über die Natur umgegangen? Welchen Einfluss haben Veränderungen durch Wirtschaftsaktivitäten und menschliche Lebensformen? Welche Folgen für die Umwelt, das Klima, haben Einfluss auf das Leben der Menschen – auch in Deutschland?

Der Tierschutz fand acht Jahre später, am 1. August 2002, seinen Weg in die Verfassung. In wie weit hat die Neuausrichtung der Haltungssysteme das Wohlergehen von Tieren dauerhaft verbessert?

Aus meiner Sicht gibt es auf die hier gestellten Fragen zu wenig positive Antworten.

Daraus ergibt sich grundsätzlich eine gemeinsame Herausforderung zur Lösung einer nachhaltigen Entwicklung der Zukunft.

Zunächst geht es darum aufzuschlüsseln, welche Schwachstellen die repräsentative Demokratie hat. Nach 1949 hat sich das Demokratieverständnis eines jeden einzelnen entsprechend der individuellen Erfahrungen, der Zielsetzungen und Lebensvorstellungen punktuell neu entwickelt. Dies ist jedoch entsprechend den aktuellen Einflüssen auf die Individualität auch zeitgeistorientiert instabil.

Schon der Ausdruck „Wertegemeinschaft“ in einer Demokratie ist durch seine Interpretationsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Wahrnehmungen verbunden. Identität stiftende Leitbilder, wie sie in einer gelebten Demokratie, in einer Herrschaft des Volkes, unverzichtbar sind, haben sich in den letzten Jahrzehnten zu Konsumleitbildern entwickelt.

Die Grundvoraussetzung zur Schaffung von existenzsichernden Lebensstrukturen ist Bildung: Bildung ist die Grundausstattung für ein individuell frei zu gestaltendes eigenes Leben.

Nach Immanuel Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Jedoch führen Bequemlichkeit und Existenzangst oftmals dazu, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen trotzdem unmündig bleibt, da es sehr bequem ist, unmündig zu sein. Mündigkeit ist für viele Menschen beschwerlich und auch gefährlich. Eine grundlegende Voraussetzung, mündig zu werden (also seinen eigenen Verstand zu gebrauchen), ist für Kant die Existenz von Freiheit. Freiheit bedeutet wiederum, dass man „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch“ macht. Dieser öffentliche Gebrauch der Vernunft muss jedem zur Verfügung stehen, was wiederum nur durch eine gesellschaftliche Aufklärung zu erreichen ist.

Bildung und Aufklärung sind Grundlage dafür, den eigenen Status innerhalb jedweder Gemeinschaft zu erkennen. Es ist hilfreich dabei, beeinflussende Faktoren zu hinterfragen, sich eine Meinung zu bilden und diese öffentlich zu diskutieren, um das eigene Sein zu definieren. Mündige Bürger sind Menschen, die ein eigenes Leben leben und nicht nur am Leben teilhaben.

Der Mensch ist von Natur aus roh und unvollkommen, hat aber die Anlage zur eigenen Vernunft, und um diese auszubilden, muss die eine Generation ihr Wissen an die andere bewusst weitergeben.

Erziehung wird von Immanuel Kant als „Kunst“ bezeichnet, die nicht von Anfang an perfekt sein kann, sondern „deren Ausübung durch viele Generationen vervollkommnet werden muss“. Jede Generation geht von den Kenntnissen der vorherigen aus und ist dadurch in der Lage, die Erziehung „proportionierlich und zweckmäßig“ weiterzuentwickeln, sodass letztlich die „ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmung“ geführt wird.

Am 22.10.2008 trafen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die damaligen Ministerpräsidenten der Länder in Dresden und riefen die „Bildungsrepublik Deutschland“ aus. Ausgehend vom bestehenden Schulsystem in Deutschland sollte die Bildungsbilanz bis 2015 verbessert werden. Ohne auf die einzelnen Ziele einzugehen, ist auffällig, dass es hier um die Bildungsbilanz geht, weniger um Lehrinhalte und dem allgemeingültigen Anspruch des Menschen und deren individuellen Zukunft.

Zur evolutionären Weiterentwicklung einer zivilen Gesellschaft bedarf es in erster Linie Menschen, die sich frei und gebildet an der Gestaltung dieser Weiterentwicklung einbringen können und wollen. Dazu braucht es den Mut und die Überzeugung eines jeden einzelnen.

Autor: Gerfried I. Bohlen