Wirtschaft wächst, aber Unsicherheit bleibt hoch
DIW-Chef Zimmermann: „Bei Gipfeltreffen in Kanada wieder einmal Gelegenheit verpasst“
30. Juni 2010 ? Die deutsche Wirtschaft wächst 2010 und 2011 mit moderatem Tempo. Nach der heute veröffentlichen Konjunkturprognose des DIW Berlin wird die Wirtschaftsleistung in Deutschland 2010 um 1,9 Prozent höher sein als im letzten Jahr, für das kommende Jahr rechnet das Institut mit einem Wachstum von 1,7 Prozent. „Die Wirtschaft kommt langsam wieder in Schwung, aber die treibende Kraft ist wieder einmal die Auslandsnachfrage“, sagte DIW-Präsident Klaus F. Zimmermann. Die Inlandsnachfrage sei schwach, da die Menschen wegen der Schuldenkrise verunsichert seien. Zu Recht, findet Zimmermann: „Die Finanzkrise ist noch lange nicht verdaut und die internationale Politik kommt mit der Finanzmarktregulierung nicht in die Gänge.“ Die Gipfeltreffen in Kanada seien eine weitere verpasste Gelegenheit gewesen, die Märkte stärker in die Verantwortung zu nehmen, kritisiert Zimmermann.
Genug Spielraum für Haushaltskonsolidierung
Auch die angekündigten Sparmaßnahmen der Regierung drücken auf die Konsumstimmung und dämpfen deshalb den privaten Verbrauch, erläutert DIW-Konjunkturchef Christian Dreger. „Trotzdem müssen wir jetzt die Gelegenheit nutzen, den Staatshaushalt zu konsolidieren. Das von der Bundesregierung angekündigte Sparpaket geht auf keinen Fall weit genug, um die Schulden wieder in den Griff zu bekommen. Auch um Steuererhöhungen werden wir nicht herum kommen.“
Das wirtschaftliche Wachstum gebe genug Spielraum, um die Staatsfinanzen wieder auf einen tragfähigen Kurs zu bringen. Forderungen nach einer Ausweitung der schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme wies Zimmermann zurück. „Wer behauptet, dass man bei einem Wirtschaftswachstum von fast zwei Prozent im Jahr nicht sparen kann, der versteht nichts von der europäischen Wirtschaft“, sagte Zimmermann. Die auf dem G20-Gipfel in Kanada beschlossene Selbstverpflichtung der Industrieländer, ihre Defizite bis 2013 zu halbieren, begrüßte Zimmermann. Die Bindungskraft der Erklärung sei aber gering. „Solche Lippenbekenntnisse sind nichts Neues. Ohne Sanktionen bleibt abzuwarten, wie viel davon dann auch wirklich umgesetzt wird“, so der DIW-Präsident.
Exporte treiben Wachstum, Inlandsnachfrage zieht erst im nächsten Jahr an
Nach dem harten Winterhalbjahr fällt das Wachstum in diesem Sommer kräftig aus, da vor allem im Bauwesen erheblicher Nachholbedarf besteht. „Wir gehen für das zweite Quartal von einem saisonbereinigten Produktionswachstum von 0,9 Prozent im Vergleich zum Vorquartal aus“, so DIW-Konjunkturexperte Ferdinand Fichtner. Nach dem Abklingen der wetterbedingten Effekte werde die Inlandsnachfrage aber zu schwach sein, um in der zweiten Jahreshälfte für hohes Wachstum zu sorgen.
„Nur auf die Exporte zu setzen reicht eben nicht aus“, erläutert Fichtner. „Vor allem weil unsere wichtigsten Handelspartner ebenfalls mit hohen Staatsschulden zu kämpfen haben und dringend sparen müssen. Das gilt für unsere europäischen Partner ebenso wie für die USA und Japan.“ Erst im nächsten Jahr wird die Binnennachfrage dank gestiegener Kaufkraft der Haushalte und steigender Investitionen einen spürbaren Teil zum Wachstum beitragen, prognostiziert das DIW Berlin.
Ausstieg aus Konjunkturprogrammen konsequent fortsetzen
Ein zu frühes Auslaufen der Konjunkturprogramme ist nach Darstellung des DIW die geringste Gefahr für den weltweiten Aufschwung. Im Bereich der Fiskalpolitik zeige das Beispiel Griechenland, dass die Kapitalmärkte eine zu lockere Ausgabenpolitik nicht dauerhaft tolerierten. Auch in der Geldpolitik sei es Zeit, restriktiver zu werden, so das DIW Berlin und weist auf die Gefahr einer erneuten Blasenbildung auf den Vermögensmärkten hin. Vor allem die Situation in China gebe in diesem Zusammenhang Anlass zur Sorge. Allerdings sei Europa wegen der Schuldenkrise in einer besonderen Lage, da das Vertrauen der Banken untereinander immer noch beschädigt sei. „Keiner glaubt dem anderen. In dieser Situation sind die Banken darauf angewiesen, von der Europäischen Zentralbank mit Geld versorgt zu werden. Alles andere wäre Gift für die Stabilität der Finanzmärkte“, so Fichtner.
Hintergrund
Die Lage der Weltwirtschaft: Auf Erholungskurs
Die Weltwirtschaft ist nach den heftigen Verlusten 2009 auf Erholungskurs. Immer noch sind die Schwellenländer die treibende Kraft des Aufschwungs, aber auch unter den entwickelten Volkswirtschaften expandieren dem DIW Berlin zufolge seit Mitte 2009 einige mit hohem Tempo. Lediglich im europäischen Wirtschaftsraum bleibe die Erholung zögerlich. Auch hier deuten aber nach Einschätzung des DIW Berlin die Wachstumszahlen für das erste Quartal 2010 und Frühindikatoren auf ein kräftigeres Wachstum hin. Sowohl der Euroraum als auch Großbritannien hätten aber die in der Rezession erfahrenen Produktionseinbrüche bei weitem noch nicht aufgeholt.
Im Gegensatz hierzu haben die USA dank kräftigen Wachstums in den letzten drei Quartalen mittlerweile fast das reale Bruttoinlandsprodukt der Vorkrisenzeit erreicht. Für das Sommerhalbjahr rechnet das DIW Berlin mit einer Festigung des globalen Wachstums und einem leichten Anziehen des Wachstums im Euroraum. Allerdings wird nach Einschätzung des Instituts das Wachstum der Weltwirtschaft moderat bleiben, zumal das Auslaufen der expansiven Geld- und Fiskalpolitik ab der zweiten Jahreshälfte 2010 und vor allem im Jahr 2011 dämpfend auf die Weltwirtschaft wirken werden.
Europäische Geldpolitik: „Euro-Abwertung kein Grund zur Sorge“
Nach Einschätzung des DIW Berlin gibt die in den vergangenen Monaten aus der Schuldenkrise resultierende Abwertung des Euro keinen Anlass zur Sorge. Gemessen am Preisniveau im Euroraum und im Rest der Welt sei der Euro derzeit nicht unangemessen bewertet. Allerdings sei die Verunsicherung auf den Anleihemärkten weiterhin problematisch, da Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und Banken erschwert würden und die Gefahr eine Kreditklemme wachse. Das von der Europäischen Zentralbank und den nationalen Regierungen im Zusammenspiel mit dem Internationalen Währungsfonds Mitte Mai beschlossene Rettungspaket für Griechenland habe einen entscheidenden, allerdings nur temporären Beitrag zur Beruhigung der Märkte in einer kritischen Phase geleistet.
Auch den gezielten Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank hält das DIW Berlin in der derzeitigen Ausnahmesituation für angemessen. Das Institut sieht durch die Operation allerdings die Glaubwürdigkeit der Zentralbank beschädigt und warnt vor zu großer politischer Einflussnahme. Bei einer Kräftigung der Wirtschaft und steigenden Inflationsraten dürfte bald eine restriktivere Geldpolitik notwendig werden. „Die EZB ist gut beraten, in dieser Situation ihre auf Preisstabilität ausgerichtete Strategie durch entschlossenes Handeln zu unterstreichen ? selbst wenn die hierdurch höheren Refinanzierungskosten die Konsolidierungsbemühungen erschweren und deshalb erheblichen politischen Druck auslosen dürften“, so das DIW Berlin in seinem Konjunkturgutachten.
Öffentliche Finanzen in Deutschland: Sparpaket nicht ausreichend
Im Zuge der konjunkturellen Belebung wird nach Einschätzung des DIW Berlin die Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte abnehmen. So werde das Defizit in diesem Jahr mit unter fünf Prozent deutlich niedriger ausfallen als erwartet. Trotzdem sei ein Konsolidierungskurs unausweichlich. Das von der Bundesregierung beschlossene Sparprogramm sei nicht ausreichend und an vielen Stellen unausgegoren. So seien Schätzansätze, die mögliche Einsparungen etwa durch die geplante Streitkräftereform oder Kürzungen bei der Bundesagentur für Arbeit beziffern, weit übertrieben. Neue Einnahmen wie die Brennelementesteuer oder eine Bankensteuer könnten sich als nicht realisierbar erweisen oder sich, wie die neu einzuführenden Dividendenzahlungen der Deutschen Bahn AG, als „Luftnummern“ entpuppen.
Für einen nachhaltigen Abbau der Defizite seien im Übrigen die Staatsausgaben durch Kürzung von Subventionen und Steuervergünstigungen zu reduzieren. So gehörten die Hilfen, die im Rahmen des Deutschlandfonds gewährt wurden, dringend auf den Prüfstand. Auch Ehegattensplitting oder die Steuervergünstigung von Sonn- und Feiertagszuschlägen könnten die Staatskasse erheblich entlasten. „Darüber hinaus bleibt die Wirtschaftspolitik aufgefordert, das Steuersystem zu vereinfachen, indem Ausnahmeregelungen gestrichen werden. Hier ist die Regierung noch nicht weiter vorangekommen, vielmehr hat man sich mit der Steuererleichterung für Hoteliers in die falsche Richtung bewegt“, so das DIW Berlin in seinem am Mittwoch vorgelegten Sommergutachten.
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